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Zeitreise

Manchmal muss man auch ungewöhnlich Wege gehen: Ein Patient erzählte davon, dass er stets von einer großen Wehmut heimgesucht wurde, wenn er durch seine Heimatstadt Wattenscheid fuhr – so viele Erinnerungen, so viele belastete Plätze, so viele Gespenster aus der Vergangenheit.

Wir kamen auf die Idee, uns das Ganze einmal gemeinsam vor Ort anzuschauen, um den Dingen auf den Grund zu gehen – also eine “mobile” Therapiesitzung. Es gibt Wohnmobile – warum keine “Praxismobile”?

Wir nahmen uns ein paar Stunden Zeit, trafen uns in Wattenscheid und suchten gemeinsam die verschiedenen Orte und “belasteten Plätze” auf.

Hier sein Bericht:

Ziel war: Trauern – loslassen – aussöhnen
Ich möchte die Erinnerungen ohne Schmerz, ohne Wehmut betrachten können (wie Mallorca-Urlaub 19irgendwann)
Es war schon ein gewaltiges Abenteuer, das mich auch heute noch beschäftigt.

Mir hat die Sache gut getan. Es war ja auch das erste Mal, das ich die damalige Zeit so nah Nacherleben und auch so ausführlich darüber nachdenken und sprechen konnte. Vor allem sprechen: sonst war ich ja mit solchen Erinnerungen immer allein und habe sie dann weggeschoben, wenn sie zu schmerzhaft wurden.
Das war schon irgendwie befreiend. Ich fühle mich erleichtert und tatsächlich sogar ein bisschen beschwingt.
Gleichzeitig war es aber auch irgendwie gruselig. Auch die Veränderungen der Stadt zu sehen und dergleichen.

Beeindruckendes:
Greifbar wurden Schmerz und Wehmut, als mir plötzlich der “kleine„ Michael vor Augen stand, wie er, orientierungslos und ohne Halt durch das Leben stolperte.

In eine Welt geworfen, die irgendwie viel zu groß war, um sich allein zurecht zu finden, die Ecken und Kanten hatte, an denen er sich oft schwer gestoßen hat und die stachelig war, so dass man sich leicht verletzen konnte.
Und wie er versucht hat, mit dem allen klar zu kommen: Lange Haare zum Provozieren, große Klappe, um die Unsicherheit zu kaschieren. Und so tat, als sei er bereits erwachsen – was auch alles viel zu groß und zu schwer war. Wie er Angst hatte, sich falsch zu benehmen (wenn er nicht wusste, wem er wann die Hand zu geben hatte oder auch nicht) und auch das durch enorme “Lässigkeit„ zu übertünchen suchte.

Wie er Halt, Verständnis und Liebe suchte in der Gruppe mit den drei anderen Jungs und bei den schönen Nacht-Parties bei Georg, wo gekifft und (ritualmäßig) Tee getrunken wurde, wo Musik gehört wurde und wo man über den Ärger mit Eltern und Schule und die ersten Erfahrungen mit den Mädchen reden konnte. Wo man sich über Helden namens Roger Waters, Alvin Lee, John Mayall, Ginger Baker oder Deep Purple, Pink Floyd, Santana austauschen konnte oder die zahlreichen Pop-und-Blues-Festivals wie (Schmerz!) das Isle-of-Wight-Festival, an dem ich nicht teilnehmen durfte.
Und dann die Beziehung zu Ulrike. Die angefangen hatte wie in Woodstock und damit zunächst alle Sehnsüchte (auch die nach Liebe, Geborgenheit und einem besseren Leben in einer besseren Welt) zu erfüllen schien.
Und wie das alles – auch die Lichtblicke, die schönen Erlebnisse – überschattet wird von der allgemeinen Situation und von dem unausweichlichen Ende. Dem Ende der Beziehung und dem Ende der Gruppe.

Die allgemeinen Situation:
Das Alleinsein, die Verwahrlosung (keiner nimmt z.B. Notiz vom Moped-Unfall)
Oder: „Hast du gehascht?“ Mal abgesehen von dem Ausdruck, der einen vor Peinlichkeit in den Boden versinken lässt – zu der Zeit hatte ich schon mindestens 6 Trips geworfen, Amphetamine und Barbiturate ohne Ende geschluckt und mich Werweißwo herumgetrieben – was alles unbemerkt geblieben war. Und wohl auch nicht weiter wichtig war…

Orte:
Die Schule selbst, als Ort der Bedrohung und jahrelangen Leidens – sie war bemerkenswert unbedrohlich. Georgs Haus (bzw. die Gegend darum) ließ mich ebenso bemerkenswert kalt, genauso wie die Gartenstraße und die Graf-Adolf-Straße. In der Gegend um Rudis und Reginas Elternhaus (auch nicht gefunden) ein leises Ziehen: Warum habe ich Regina damals so scheiße behandelt? Sie war so lieb und süß… Vielleicht war ich da noch nicht bereit für die Stabilität, die mir meine Frau später gab? (es gibt da viele Ähnlichkeiten…)
Auf jeden Fall gab es damals einen Traum… Regina und ich vor dem Traualtar. Der Paster fragt seine übliche Frage. Und ich rufe laut „Nein!“ und renne aus der Kirche…

Tröstliches:
Sight-Seeing hatte auch wirklich schöne Momente der Erinnerung: diesmal nicht nur schmerzhafte.
Ich bin nicht allein Schuld – es gibt immer auch den anderen Teil, die andere Person. Es war nicht meine alleinige Verantwortung: ein völlig neuer Gesichtspunkt für mich, aber ungemein entlastend – auch im Hinblick auf spätere Ereignisse. Und dass es vielleicht eine Auszeichnung war, dass es so gesehen eben doch einmalig und etwas Besonderes war… mit mir…
Beneidenswert zu sein wegen der Kreativität und Möglichkeiten, wegen der Keckheit und des Muts (z.B. die beiden Mädels nach dem Konfirmandenunterricht anzusprechen) – auch das war neu für mich, tat mir gut.

Die 2 Jahre (zwischen Ulrike und noch mal Ulrike, zwischen 16 und 18) waren keine verlorene Zeit, wie ich immer dachte. Es war ungeheuer tröstlich zu hören, dass mir diese 2 Jahre vermutlich geholfen hatten, mein Glück zu finden. Daneben kann alles andere – zumindest ein bisschen – verblassen: der nicht gehabte Spaß, die nicht kennen gelernten Mädels usw.

Conclusio:
Ist es gelungen, das Ziel zu erreichen? Sicher nicht ganz. Sicher nicht jedes und alles.
Aber ein kleines gutes Stück auf dem Weg ist zurück gelegt. Mir scheint, als seien die Erinnerungen weniger schmerzlich, als sei es weniger quälend, damals etwas versäumt zu haben, als sei es zumindest möglich, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen.
(Und doch gibt es gleichzeitig auch dieses leise Unbehagen: Ist das wirklich so, oder bilde ich mir das alles nur ein, weil ich es so sehr will? Wird es anhalten oder wird es irgendwann wieder vorbei sein? Ist es also eine vorüber gehende Euphorie?)

Nachtrag, anderthalb Wochen später:
Das gute Gefühl hält an. Was das Loslassen angeht, so habe ich jetzt (immer noch?) das Gefühl, dass ich jetzt eine Tür hinter mir zu machen kann. Eine Kellertür? Auf jeden Fall kann ich sie schließen, ohne sie krampfhaft zuhalten zu müssen. Ohne Angst davor, wie es dahinter aussieht: ein dunkler Keller. Jetzt ist es ein Keller, der auch ein bisschen freundlich aussieht, nicht nur dunkel ist, sondern auch helle Flecke hat. Ich kann die Tür auch mal öffnen, wenn ich will. Und ohne, dass mich Gespenster heimsuchen. Und ich kann sie eben auch wieder schließen. Einfach mal zumachen.

 

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