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Konflikte als Schätze

Ich freue mich immer, wenn in einer Gruppe Konflikte ausgetragen werden. Es ist für mich ein Zeichen dafür, dass in der Gruppe ein tragfähiger Boden an Vertrauen gewachsen ist, so dass auch heiklere Themen angesprochen werden können; denn es ist in aller Regel einfacher, stützend und fürsorglich als konfrontierend (und fürsorglich) mit einander umzugehen. Dieser Ausdruck wachsender Offenheit bedeutet in der Regel, dass es möglich ist, sich schwierigeren Themen zuzuwenden. Dann verwende ich manchmal auch den Satz: „Eure Konflikte sind Schätze!“.

Selbst hörte ich diesen Satz zum ersten Mal während meiner Weiterbildung in Gestalttherapie vom damaligen Leiter unserer Selbsterfahrungsgruppe. Ehrlich gesagt – ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht viel damit anfangen. Er kam für mich unvermittelt und daher etwas hohl daher. Einige Monate später – die Gruppe hat schon eine andere Leitung – wuchs in mir der Groll auf ein anderes Mitglied in der Ausbildungsgruppe. Ich empfand ihn als anpasserisch, nie bezog er klar Stellung, war immer mit allem einverstanden, war für mich nicht wirklich zu packen. Ich wurde von Wochenende zu Wochenende wütender auf ihn. Irgendwann platzte es aus mir raus: „Du gehst mir unendlich auf die Nerven mit deiner Anpassung.“ Die Leiterin ermutigte mich, den Konflikt in einer körperlichen Übung auszutragen. Obwohl mein Gegenüber deutlich größer war, konnte ich ihn nach Belieben durch den Raum schieben. „Stell dich! Wehr dich“, rief ich immer wieder – doch er blieb gleichmütig und energielos. Schließlich gab ich frustriert auf.

„Woher kennst du diese Erfahrung?“ Die Frage der Leiterin brachte eine tiefe Traurigkeit in mir hervor: Es war die Erinnerung an eine basale Erfahrung mit meiner Mutter, von der ich mir Schutz und Verteidigung gegenüber meinem autoritären Vater erhofft hatte und mich dabei im Stich gelassen fühlte. Ich vermisste ihre klare Stellungnahme, ja Parteinahme für mich. Der aktuelle Konflikt brachte mich in Verbindung mit meinem enttäuschten und schließlich zugunsten einer kämpferischen Autonomie zurückgenommenen Bedürfnis nach Schutz und Anlehnung. Ich hatte einen der Schätze von Konflikten erfahren. Er brachte mich in Berührung mit einem wichtigen Lebensthema.

„Gute Miene zum bösen Spiel“

Wenn ich von Konflikten spreche, meine ich einerseits Konflikte derart, dass wir uns über das Verhalten eines anderen aufregen und wütend werden, andererseits solche, in denen wir uns von jemandem enttäuscht oder gar verletzt fühlen. Viele Menschen gehen über solche Situationen hinweg, machen die berühmte „gute Miene zum bösen Spiel“, passen sich an oder ziehen sich zurück. Ein erster großer Schatz wird daher bereits gehoben, wenn wir uns darin überhaupt ernst nehmen.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Doro ist in der Gruppe sehr dominant. Es fällt ihr leicht zu sprechen, sowohl über sich, also auch in Feed-backs zu Anderen. Manchmal spricht sie, als hätte sie alle Zeit der Welt, fast ausufernd schildert sie ihre Eindrücke und Erfahrungen. Es ist unübersehbar – sie steht gern im Mittelpunkt, genießt es, Raum zu nehmen und zu haben.

Eines Abends kommt es zu einer wütenden Attacke von Armin: er könne es nicht mehr ertragen, wie sich Doro breit mache, den Raum besetze, sich vordränge. Schon lange sei er zunehmend ärgerlich auf ihre Egozentrik. Armin ist eher bescheiden und zurückhaltend, wartet lange – oft zulange – bis er sich meldet, spricht in kurzen Sätzen, eher in Sorge, den Anderen zu viel Zeit zu nehmen, zur Last zu fallen.

Der ausgetragene Konflikt hilft

Es kommt zu einem heftigen Austausch zwischen den beiden, von dem schließlich beide profitieren: Armin wird klar, wie sehr er bei Doro ein Verhalten sieht, dass er sich nicht gestatten kann, sich nämlich ernst, Raum und Bedeutung zu nehmen. Ihn regt also an Doro etwas auf, was er sich selbst nicht erlauben kann, und er erkennt, dass er hier sogar von Doro lernen könnte. Doro wird klar, wie unglaublich bedürftig sie nach immer mehr Raum ist, wie sehr sie Anerkennung und Platz braucht, wie wenig sicher und zufrieden sie sich fühlt, wenn sie mal nicht als die Eloquente im Mittelpunkt steht. Der ausgetragene Konflikt hilft beiden, sich bewusster über die eigenen Verhaltensmuster zu werden. Ausgangspunkt war hier die unbewusste Abwehr eines wichtigen Bedürfnisses (Armins), das über den Konflikt zugänglich, bewusst werden konnte.

Konflikte führen also zu Verborgenem; sie helfen, Unbewusstes zu entdecken.

Diese mitunter sehr heftig ausgetragenen Konflikte werden im Fachjargon manchmal mit dem Ausdruck “harte Liebe„ bezeichnet. Menschen, die nichts für einander übrig haben, ignorieren sich eher wechselseitig; umgekehrt ist Wut eher ein Ausdruck dafür, den Anderen ernst und wichtig zu nehmen. Und: In der Wut sagt man dem Anderen oft bedeutsame (wenn auch unangenehme) Wahrheiten.

Um es schließlich systematisch auszudrücken: Konflikte

  • führen uns zu wichtigen Lebensthemen, die uns geprägt haben, wo wir gelitten und daraus Bewältigungsmuster entwickeln haben, die uns beengen. Im Ärger entdecken wir frühe Enttäuschungen
  • bringen uns in Verbindung mit abgewehrten eigenen Anteilen: wir bekämpfen bei anderen, was wir uns selbst nicht erlauben
  • lenken den Blick zu uns zurück, bringen uns Verhaltensweisen nahe, die wir bei uns nicht wahrhaben wollen: uns regt beim anderen etwas auf, was wir selbst – oft mehr – sind (der Splitter im Auge des Anderen und der Balken bei uns selbst)
  • fordern uns heraus zur persönlichen Reifung – in jedem uns angetragenen Konflikt steckt ein kritisches Feed-back an uns. Wollen wir uns dieser Kritik stellen, das in ihr steckende Körnchen Wahrheit – und sei es auch noch so klein – annehmen? Lassen wir uns herausfordern zur Überwindung des kritisierten Verhaltens?

Konflikte auszutragen schließt immer den Schritt ein, sich in seinen Gefühlen ernst zu nehmen, sich einer Auseinandersetzung zu stellen, sich abzugrenzen oder für seine Angelegenheiten zu streiten. Viele müssen es vollkommen neu lernen, Konflikte auszutragen, manche, eine konstruktive Form entwickeln. Diese basalen Elemente von Konfliktfähigkeit sind zugleich Voraussetzung für gelingende Kontakte und Verbindungen. Ziehen wir uns (bei Kränkung, Enttäuschung, Kritik…) zurück in die Einsamkeit oder bleiben wir mit allen erlebten Gefühlen (Schmerz, Angst vor Ablehnung, Angewiesenheit, Ärger…) in der Begegnung, bringen uns damit ein, halten so die Beziehung bzw. uns in Beziehung.

Erst wenn wir uns ernst nehmen, kann der Andere uns ernst nehmen, uns sehen, selbst Verantwortung nehmen. Erst wenn wir uns fühlend einbringen, kann der Andere uns wahrnehmen. Nicht ausgetragene Konflikte führen dagegen zu innerem Rückzug und Abwendung, letztlich untergraben sie jede Beziehung. Sie behindern den Kontakt, die Verbindung: weil wir bei uns selbst etwas abschneiden, schneiden wir auch die Verbindung zum Gegenüber ab. Während ein stiller Konflikt den nächsten nach sich zieht und so allmählich die Atmosphäre verdirbt, kann ein offener Dissens sogar die Beziehung vertiefen.

Konfliktvermeidung führt im Übrigen keineswegs in ihre Entschärfung, sondern im Gegenteil oft mitten hinein in Konflikte. Diffusität und Unklarheit produzieren Enttäuschung und Ärger, lassen viel Platz für Phantasien. Es ist leicht zu erkennen, dass z.B. ein klares Nein konstruktiver ist als ein ausweichendes Wegbleiben oder Nicht-Antworten.

Ich betrachte Konfliktfähigkeit als Teil einer lebensentscheidenden Handlungsfähigkeit zur Gestaltung des nahen Umfelds ebenso wie der Gesellschaft. Konfliktfähigkeit zu entwickeln, ist für mich Förderung von antidepressivem Selbst-Bewusstsein und von Zivilcourage zugleich, letztlich Arbeit an einer gesunden und mündigen Lebensgestaltung.
So freue ich mich doppelt weiter über jeden in der Gruppe ausgetragenen Konflikt.