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Macht und Grausamkeit des Opfers

Corinna plagen Schuld- und Schamgefühle für Handlungen aus ihrer Kindheit. Es belasten sie die Erinnerungen an „grausame Quälereien an einem anderen Kind“, wie sie es nennt. Es fällt ihr ungeheuer schwer, davon zu erzählen. Sie ist inzwischen fast fünfzig und hat bisher noch mit niemandem darüber sprechen können.

In der Grundschulzeit, etwa im Alter von neun oder zehn, lauerte sie zusammen mit einer Jungenclique einer Mitschülerin auf: Sie bedrängten diese, schubsten sie in eine Dornenhecke, rissen ihre Schultasche auf, so dass der Inhalt sich auf die Straße verstreute – und das über einen längeren Zeitraum. Es habe richtig Spaß gemacht. „Was war ich nur für ein Monster“, klagt sie sich an. Sie versteht heute nicht, wie sie das tun konnte und verurteilt sich.

„Was war denn mit der Mitschülerin los, dass ihr sie so verfolgt habt?“ frage ich. „Die hat sich ja nicht mal gewehrt, hat alles mit sich machen lassen“ entfährt es Corinna wütend-empört. „Die war so angepasst.“

Wir unterhalten uns über ihre Geschichte …
Allmählich schält sich aus ihrem biographischem Hintergrund folgende familiäre Konstellation heraus: Sie erlebte ihre Mutter als hilflos gegenüber dem groben Vater. Seiner bis zur Gewalt reichenden Autorität hatte die Mutter nichts entgegen zu setzen – und konnte sie als Tochter folglich auch nicht vor den Grobheiten des Vaters schützen.

Gegenüber der als schwach empfunden Mutter war Wut tabu

Die ist eine häufig anzutreffende Familienstruktur. Und diese ist eine Quelle vielschichtiger verborgener Dynamiken und Leidenszustände, die sich unbewusst einen Ausdruck in der beschriebenen Kindheitssituation suchen:

In der Hilflosigkeit der Mitschülerin begegnet Corinna einem Persönlichkeitsanteil ihrer Mutter, unter dem sie gelitten hat. Ihre Wut und Enttäuschung gegenüber der hilflosen Mutter entlädt sich gegenüber anderen hilflosen, angepassten „Opfern“. Im Verhältnis zur Mitschülerin kommt das zum Ausdruck, was sie der Mutter gegenüber nicht empfinden und wahrnehmen konnte. Gegenüber der als schwach empfunden Mutter war Wut tabu; sie entstand nicht einmal im Keim. Vielmehr dominierte das Gefühl von Mitleid mit der Mutter, das immer zugleich als Aggressionsbremse wirkt. Erst gegenüber einem anderen Kind kann sich Corinnas Enttäuschung vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen von wehrloser Verlassenheit als Wut entladen.

Die Wut auf die Wehrlosigkeit der Mitschülerin ist jedoch nicht allein aus der Verzweiflung über die mütterliche Schwäche gespeist. Corinna kennt selbst im Verhältnis zur ihrem Vater genügend Momente der Schwäche, der Wehr- und Machtlosigkeit. Sie ist auf diese Weise in der Mitschülerin auch mit sich selbst konfrontiert. Daher wehrt sie auf diese aggressive Weise zugleich die eigenen Erfahrungen und Gefühle des Ausgeliefertseins ab. In der Verachtung der Anderen wertet sie eigene Anteile ab, ihre eigene wehrlose und angepasste Seite, weil sie andernfalls mit den erlitten Schmerzen und der Not ihres eigenen Erlebens konfrontiert wäre.
Schließlich stellt Corinna auf dem Weg des Angriffs auf eine Mitschülerin eine Situation her, in der sie sich endlich einmal nicht selbst als Opfer, als hoffnungslos unterlegen erlebt, sondern sich ausnahmsweise als machtvoll und handlungsfähig erfährt. Sie stellt im Verbund mit der Peergroup für sich eine Machtposition her. Die erlebte Demütigung durch den Vater verwandelt sie in Stärke. Ohnmacht verwandelt sie in Macht einer Anderen gegenüber, die nun ihrerseits ohnmächtig ist. (Hier ist offenkundig die Schnittstelle, an der Opfer zu Tätern werden können – und so eine Kontinuität der Gewalt produzieren, obwohl sie selbst unter Gewalterfahrungen gelitten haben.)

Das Schweigen der Mutter in Momenten, in denen ihre Parteinahme zum Schutz der Tochter gefordert war, hat bei Corinna ein tiefes Gefühl der Verachtung für Anpassung und Unterordnung hinterlassen. Es hat ihr weiterhin vermittelt, es sei aussichtslos, um Hilfe zu bitten, sich als Hilfs- und Schutzbedürftige zuzumuten. Und noch mehr: Das stille Erdulden der Mutter in Anwesenheit des Vaters oder ihr Klagen vor dem Kind über ihre Unmöglichkeit, sich dem eigenen Mann zu widersetzen, verlagerte die kindliche Enttäuschung auf den leichter als Peiniger erkennbaren Vater. Dies führt häufig nicht nur zur Solidarisierung mit der Mutter. Es mündet am Ende sogar zumeist in kindlichen Bemühungen, diese gegen den Vater zu verteidigen und zu beschützen.

So wird die Eltern-Kind-Situation vollends umgekehrt

Auf der anderen Seite wird dies von schwachen Eltern keineswegs nur passiv hingenommen, sondern häufig durchaus aktiv herbei geführt, indem sie sich ihrerseits auf die Kinder stützen. So wird die Eltern-Kind-Situation vollends umgekehrt. Die Liebe der Kinder führt sie in eine überfordernde Verantwortungsübernahme für ein Elternteil, deren Folgen oft erst Jahre später deutlich werden. (Im Fachjargon: Parentifizierung.)
Dies ist eine klassische Situation emotionalen Missbrauchs. In Familienaufstellungen kommen von den Stellvertretern der Erwachsenen dann Sätze an die Kinder wie: „Was soll ich denn machen?“ Ratlos und ratsuchend wenden sich die Großen an die Kleinen! Das Leiden, das Eltern auf diesem Wege ihren Kindern zufügen, ist diesen oft erst viel später im Leben zugänglich, weil es subtiler ist als das Leiden unter einer offenen Grobheit. Der Opferstatus des schwachen Elternteils befreit diesen vordergründig von jeglicher (Mit-) Täterschaft. Die Täterin erscheint vielmehr selbst als Opfer.

Die grausamen Folgen für das schutzbedürftige Kind, das im Stich gelassen wird, sind nicht minder tiefgreifend als die Erfahrung von offener Missachtung oder gar Gewalt. Die Opferposition eines Elternteils erzeugt im Kind eine – mitunter lebensbestimmende – innere Haltung, sich nicht so wichtig zu nehmen. Die Macht des Opfers bringt den Anderen dazu, alles zu tragen, zu viel Verantwortung zu nehmen – und erlaubt es dem Opfer selbst, sich davon zu stehlen. Dem Opfer – und allen späteren Opfern – kann man nichts abschlagen. Es verleitet andere dazu, sich in seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen nicht so ernst zu nehmen, diese zu übergehen.

Die Opferhaltung produziert Wut- und Spontaneitätsbremsen, manipuliert zu Solidarisierung und delegiert Verantwortung – immer im Status der moralischen Überlegenheit. Diese Instrumentalisierung des Opferstatus wird keineswegs immer nur unbewusst inszeniert; sie wird von manchen Menschen durchaus auch bewusst eingesetzt. (→ Mitleid) Nach dieser Stunde entscheidet sich Corinna, der früheren Mitschülerin einen Brief zu schreiben. Sie hat nun mehr Verständnis und Mitgefühl für sich selbst gefunden. Sie sieht sich nicht mehr als Monster, sondern als Opfer eines Opfers. Sie möchte sich von den Schuldgefühlen entlasten, um Verständnis und Verzeihung bitten. Und so ist sie dabei, selbst den Opferstatus zu verlassen, indem sie Verantwortung für ihr Handeln und ihr Leben übernimmt.