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Manipulation

Wir alle manipulieren, zumindest versuchen wir es. Wir versuchen, andere Menschen zu bewegen, etwas zu tun oder zu unterlassen – um etwas zu erreichen, was wir nicht mit offenem Visier anzustreben wagen. Der Hintergrund: wir wollen uns selbst vor etwas bewahren. Damit wir uns nicht mit Themen oder Gefühlen beschäftigen müssen, denen wir uns (noch) nicht gewachsen fühlen, versuchen wir, unser Gegenüber (Partner, Freunde, Kollegen) so zu beeinflussen, dass uns genau dies erspart bleibt. Zu abstrakt? Ich werde gleich konkret.

Die Formen der Manipulation sind vielfältig und so variantenreich wie das menschliche Verhalten schlechthin: schweigen, erstarren, unzufrieden oder grimmig schauen, abrupte Themenwechsel, schimpfen, abwehren, zerren, unter Druck setzen, täuschen, Vorschriften machen, kommandieren, überreden, bitten usw. usf. Manchmal wird ganz bewusst manipuliert, ein anderes Mal ist es ein durchaus unbewusster Prozess, wenn mir meine manipulative Ausstrahlung selbst nicht zugänglich ist. Das Wesentliche der Manipulation ist, dass die wirklichen inneren Motive (Ängste) verborgen bleiben sollen, ja dass sie dem Manipulierenden sogar mitunter selbst verborgen sind. Das Gegenüber spürt jedoch ganz deutlich, dass es etwas tun oder unterlassen soll.
Noch konkreter! Einige Beispiele:
Sicher kennen Sie Menschen, die kein Wort sagen und dennoch in ihrer ganzen Ausstrahlung unmissverständlich ausdrücken: „Ich bin wütend und beleidigt!“ Sie schaffen es nicht, einen Konflikt offen auszutragen. Sie verstehen es aber sehr wohl, allen Anwesenden das Gefühl zu geben, einen Fehler gemacht zu haben und dass sie gefälligst dafür sorgen sollen, dass es dem Betroffenen wieder besser geht. Werden daraufhin die anderen wütend, können sie noch vorwurfsvoller gucken, denn sie haben „doch gar nichts gemacht.„ (Dominanz-Manipulation, um dem Konflikt bzw. der eigenen Wut auszuweichen)
In ähnlicher Weise wird sehr häufig still, aber unmissverständlich signalisiert: „ich kann das nicht; kümmere dich um mich, mach du das.“ (Opferausstrahlung als Manipulation, um der eigenen Verantwortung auszuweichen)
Norbert möchte gerne mit seiner Frau über seine geheimen sexuellen Wünsche und Phantasien sprechen. Er traut sich jedoch noch nicht ganz, das Risiko einer Offenbarung einzugehen: „Ich erzählte dir ein Geheimnis, aber nur, wenn du mir auch eines von Dir verrätst.“ (Erpresserische Manipulation, um die eigene Scham und Angst zu lindern.)
Die Mitarbeiterin einer Firma, die immer vehement vertrat, den Betriebsausflug übers Wochenende zu verbringen, protestiert in einem Folgejahr plötzlich heftig dagegen. Alle Kolleginnen und Kollegin sind vollkommen überrascht und verstehen die Welt nicht mehr. Erst einige Wochen später wird deutlich, dass sie Angst hatte, ihre längere Abwesenheit vor ihrem neuen Freund zu vertreten, der so eifersüchtig war, dass er sie nicht allein wegfahren lassen wollte. Also setzte sie die Belegschaft unter Druck, nicht wieder über mehrere Tage wegzufahren, damit sie den Konflikt mit ihrem Partner entschärfen konnte (Manipulation, um einem Konflikt auszuweichen).
Eine Gruppenteilnehmerin bemängelt an einem Wochenende die Sitzordnung; sie vermisse einen richtigen Gruppenkreis, der sei doch viel schöner. Alle rücken ihre Stühle neu zu recht. Doch warum wurde ihr das in gerade diesem Moment so wichtig? Im Nachfragen wird schließlich ein tieferes Motiv deutlich, dass sich nämlich durch die Kreisform der Abstand zwischen ihr und einer bestimmten Person vergrößerte, die ihr in diesem Moment zu nah war (Manipulation der Sitzordnung, um den inneren Druck des Konfliktes zu reduzieren).

In den meisten Fällen geschieht die Manipulation unbewusst

Der wesentliche Sinn dieser interpersonellen Manipulationen ist es also, ein inneres Problem durch eine äußere Veränderung bzw. eine Veränderung des Gegenübers zu umgehen. Als Gegenüber fühle ich in solchen Momenten eine deutliche Aufforderung, eine stille oder offene Botschaft, eine ausgesprochene oder unausgesprochene Erwartung, anders zu sein als ich bin, oder anders zu handeln, als ich möchte. Ich erlebe einen subtilen oder offenen Anpassungsdruck des Anderen als Folge unausgesprochener oder getarnter Bedürfnisse.
In den meisten Fällen geschieht diese Manipulation unbewusst; nur selten ist es ein absichtsvoller Plan. Sie ist vielmehr Reflex eines inneren Ausweichens. In solchen Manipulationsversuchen widerspiegelt sich fast immer ein ungelöstes Dilemma wie z.B. Angst vor der eigenen Wut, Scham für sexuelle Bedürfnisse, Ausweichen vor der eigenen Verantwortung. Also muss die Beziehung oder die Situation so manipuliert werden, dass diese schwierigen Themen vermieden werden können. Die Botschaft heißt dann: „Du darfst nur so reagieren, wie ich es vertrage“. Oder: „Du sollst dich so verhalten, wie ich es brauche.“
Und umgekehrt: wenn ich mich manipulieren lasse, verweist es in gleicher Weise auf ein noch ebenso wenig bewusstes, ungelöstes Thema meiner persönlichen Entwicklung. Vielleicht reicht meine Kraft, mich zu widersetzen, nicht aus; vielleicht kann ich mich subtilen Aufforderungen nach Übernahme von Verantwortung nicht entziehen, oder ich scheue selbst Auseinandersetzung und Konflikt oder, oder, oder …
Noch ein Beispiel aus einer Gruppensitzung: Kerstin quält sich bei dem Versuch auszudrücken, dass sie Aufmerksamkeit und Unterstützung braucht. Sie hat Angst, dass sie sich mit der Äußerung solcher Bedürfnisse lächerlich macht. Neben ihr in der Gruppe sitzt Torsten, der ihre Langsamkeit kaum aushält, schwer atmet und deutlich seine Ungeduld ausstrahlt, was Kerstin spürt, obwohl kein Wort gefallen ist. In der Nachbesprechung dieser Sequenz fordert sie von Torsten: „Ich will, dass du dann weggehst, ich will deine Ungeduld nicht spüren.“ Sie möchte ihn also verändern oder gar loswerden, damit sie sich nicht mit ihrer Angst vor Abwertung konfrontieren muss. Nur in dieser Konfrontation könnte sie jedoch lernen, sich zu wehren (also vielleicht sagen: „Du tust mir weh, du machst mir Angst. Ich quäle mich schon selbst mit meiner Selbstabwertung“). Noch weitergehend könnte sie lernen, sich darin anzunehmen. Dann könnte sie vielleicht sagen: „Ich brauche die Zeit“ oder: “Ich bin so, auch wenn es dir nicht gefällt“. Damit würde sie beginnen, sich der eigenen Entwicklungsaufgabe zu stellen, nämlich ihre Angst vor Abwertung zu überwinden und zu mehr Selbstakzeptanz zu finden.
Statt sich damit zu beschäftigen, Torsten zu kontrollieren oder dahin gehend zu manipulieren, sich „anständig zu benehmen“, müsste sie sich mit sich selbst befassen. Das ist schwieriger, aber letztlich natürlich ergiebiger. Umgekehrt war Torsten übrigens durchaus willig, Kerstins Geboten zu folgen, denn er kam sofort mit der früh erfahrenen Zuschreibung des „unerträglichen Jungen, der sich still auflehnt“ in Berührung, letztlich also mit seiner eigenen Angst vor Abwertung, und wollte spontan „brav“ sein.

Jede „unkontrollierte“ Annäherung belebt diesen Konflikt zwischen Sehnsucht und Angst


Oft sind Subjekt und Objekt der Manipulation auf diese Weise miteinander verstrickt. Manipulationsdruck und Anpassungsbereitschaft sind zwei Spiegelbilder der gleichen Quelle – hier der Angst vor Abwertung.
Auch als Therapeut bin ich immer wieder Manipulationsversuchen ausgesetzt. Jasmin z.B. wehrt mich heftig ab, als ich ihr in ihrer Traurigkeit ein Taschentuch reichen möchte. Sie hat eine tiefe Sehnsucht nach Menschen, denen sie sich anvertrauen kann, gleichzeitig jedoch eine basale Angst, sich in dieser menschlichen Begegnung zu verlieren. Jede „unkontrollierte“ Annäherung belebt diesen Konflikt zwischen Sehnsucht und Angst; und damit sie diese Angst nicht stärker fühlen muss, werde ich folglich dahingehend zurechtgewiesen, ihr nicht mit einer fürsorglichen Geste näher zu kommen. Diese Form des Widerstands zielt darauf, alles so zu gestalten, dass die Angst nicht wachgerufen wird, während im Hintergrund der Veränderungswunsch (die abgewehrte Sehnsucht) durchaus etwas Neues will. Wird die Grenze berührt, folgt Manipulation oder Erstarrung. Erstarrung ist ein wesentliches Gegenstück zur Fremdmanipulation, nämlich die Selbst-Manipulation. Der Klient hält zur Bändigung seiner Angst still, der andere soll entsprechend ebenso still halten – und so bleiben beide Gefangene der Angst.
Als Therapeut achte ich dieses „Gefängnis“, ohne jedoch mit hinein zu gehen. Wenn ich mich anpasse, mich einschüchtern und manipulieren lasse, also beispielweise das Taschentuch nicht mehr anbiete, dann stütze ich die Angst. Ich respektiere daher die Grenzen meines Gegenübers, ohne mich ihnen zu unterwerfen. Ich benenne vielmehr meine Impulse und Absichten, teile mit, wie es mir mit solchen Begrenzungen geht und lasse dem Gegenüber die Entscheidung. Ich lote damit die Grenzen aus, ohne sie zu überschreiten, aber auch ohne mich ihnen anzupassen. Bei nächster Gelegenheit würde ich möglicherweise wieder äußern, dass ich erneut das Bedürfnis verspüre, Jasmin ein Taschentuch zu reichen, auch wenn ich es unterlasse. Möglicherweise würde ich nach einigen solcher Situationen empfinden und aussprechen, dass ich resigniere, meine Impulse der Zuwendung zurücknehme. Ich könnte darüber den Dialog suchen, ob dies so gewollt oder überhaupt klar ist usw. Immer stünde ich also in der Herausforderung, mir treu zu bleiben. Darin bin ich derselben Anforderung ausgesetzt, wie alle Menschen, die manipuliert werden sollen.
Manipulation gilt als „verwerflich“; wer möchte schon gern ihrer bezichtigt werden? So unangenehm es daher erscheinen mag, der manipulierenden oder manipulierbaren Seite ins uns zu begegnen: es geht mir nicht um moralische Bewertung. Mir ist vielmehr daran gelegen, die Entwicklungschance aufzuzeigen, die darin liegt, diese schwierigen Aspekte in uns zu entdecken. Wenn wir es wagen, uns damit zu konfrontieren, wie sehr wir von inneren Ängsten dominiert sind oder in verdeckter Abhängigkeit von der Zustimmung durch andere stehen, kann dies den Weg zu Wachstum von innerer Kraft und Selbstbewusstsein bahnen. Die Alternative zur getarnten Einflussnahme heißt wie so oft: Risikobereitschaft. Es bedeutet, sich auf den Weg zu machen, zu den eigenen Wünschen und Interessen zu stehen und dafür auch Konflikte in Kauf zu nehmen. Es bedeutet somit, sich genau auf die Grenzen zuzubewegen, an denen die Ängste lauern. Herausgefordert sind hier immer beide, Subjekt wie Objekt der Manipulation.