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Mitleid – (für) den anderen tragen

Kerstin lebt in einer Dreiecksbeziehung – heimlich. Sie traut sich (noch) nicht ihren Mann zu verlassen, obwohl sie die Ehe als gescheitert empfindet. Sie hat Angst, dass ihr Mann sich nach einer Trennung etwas antut – sie fühlt sich verantwortlich für ihn, und verbleibt so in einem Leben in Heimlichkeit.

Dagmars Tochter hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Immer wieder gerät sie in verzweifelte Situationen, droht abzurutschen in Drogenkonsum und –szene. Ebenso konstant versucht Dagmar, ihre Tochter zu retten, organisiert Unterstützung, kümmert sich um Wohnungen oder psychosoziale Betreuung – ein furchtbar zermürbender Kreislauf, der Dagmar an den Rand der Verzweiflung, in Erschöpfung und Überforderung führt. Ihr wird in unseren Gesprächen zunehmend deutlich, wie sehr sie sich in einem Zwiespalt befindet, sich dem Sog des Kümmerns zu beugen oder ihrer Tochter die volle Verantwortung für das eigene Leben zu lassen.
Edith ist mit einer depressiven Mutter aufgewachsen; so hat sie versucht, der Sonnenschein der Familie zu sein und sich stets bemüht, der Mutter nicht zur Last zu fallen. Noch heute, als Erwachsene, empfindet sie es als ihre Verantwortung, die Mutter aus trüben Stimmungen zu holen. Es ist für mich kein Zufall, dass sie einen Partner hat, der häufig in depressiven Stimmungen ist, und den sie ebenfalls immer wieder stützt. Sie selbst kann sich in ihren Bedürfnissen nach Unterstützung zunächst kaum wahrnehmen oder gar anvertrauen.
In all diesen Fällen dreht es sich um die Frage, zu wie viel Verantwortungsübernahme, zu wie viel Hilfe und gar Aufopferung ich bereit bin, wenn ich mitleide oder Angst um einen Menschen habe, der mir nahe steht, den ich vielleicht liebe. Und: welches Modell von Hilfe steckt in dieser Form des Kümmerns oder Rücksicht Nehmens?
In einer Sitzung schlage ich Edith vor, einmal als körperliche Handlung (Körperskulptur) darzustellen, was sie darunter versteht, ihrer Mutter (oder anderen) zu helfen. Wie könnte das als Körperbild aussehen? Ohne lange Überlegung umgreift sie mich, hebt mich fast hoch. Es erscheint ihr völlig selbstverständlich, dass sie mich fast trägt. Ihre, in diesem Fall körperliche, Anstrengung, die auf Dauer nur in Überanstrengung münden kann, bemerkt sie durchaus. Sie hat gleichwohl offenbar überhaupt keine andere Vorstellung von Unterstützung, als den anderen annähernd zu tragen. Ich spiegele ihr, wie es mir dabei geht: ich fühle mich eher beengt, in meiner Bewegungsfreiheit begrenzt und behindert; ich fühle mich nicht gestützt, sondern bevormundet und bedrängt. Dann tauschen wir, und ich übernehme die Weise, wie sie mich „gestützt“ hat; Edith fühlt sich ebenso bedrängt und unwohl wie ich. Fast fassungslos fragt sie mich, wie denn dann Stützen aussieht, wenn nicht so. Ich schlage ihr vor, gemeinsam nach einer Alternative zu suchen. Wir experimentieren eine Weile, und am Ende erlebt sie zwei Formen als stützend und frei zugleich: in einem Fall stehe ich seitlich neben ihr und lege sanft meine Hand auf ihre Schulter; in zweiten Beispiel stehe ich haltgebend, den Rücken leicht stützend, hinter ihr – so hat sie den Blick nach vorn frei für ihren Weg, und weiß mich doch zugleich absichernd hinter sich. Selbst diese Haltungen als Stützende einnehmend, realisiert sie noch einmal das Übertriebene ihres ursprünglichen Hilfsimpulses und erlebt sich demgegenüber nun als Begleitende wohlwollend und zugleich innerlich unangestrengt und frei.

Diese wunderbare Therapiesequenz „verkörpert“ fast modellhaft Problem und Lösung zugleich.
Wir können das Leid eines anderen nicht tragen – wir können einzig und allein präsent sein, sei es begleitend, tröstend oder stützend. Wenn wir es selbst tragen wollen, überfordern wir uns und schwächen zugleich den Anderen. Es ist mitunter schrecklich, anerkennen zu müssen, dass wir bei Menschen, die wir lieben, nicht mehr geben können. Doch es liegt nicht in unserer Hand, ihr Schicksal stellvertretend zu lösen. Der andere lernt nicht wirklich, selbst aktiv zu werden und sobald wir nicht mehr zur Verfügung stehen, stellt sich die vorherige Hilflosigkeit wieder ein.

Kinder aus belasteten Familien neigen dazu, sich für ihre Eltern verantwortlich zu fühlen


Es gibt Dinge, die außerhalb unserer Macht liegen. Das anzuerkennen und Verantwortung zurückzugeben, stärkt den anderen viel mehr. Doch dies zu sehen, fällt vielen schwer, die schon früh etwas anderes gelernt haben: Kinder aus belasteten Familien (deren Eltern z.B. verlassene Elternteile sind, Alkoholiker, depressiv bis zur Suizidalität, schwer krank usw.) neigen dazu, sich für ihre Eltern verantwortlich zu fühlen. Und Eltern nutzen diese kindliche Opferbereitschaft und stützen sich auf ihre Kinder, nehmen sie als Partnerersatz, Helfer, Seelentröster… So entwickelt sich der sog. nicht-sexuelle Missbrauch.
Die Kinder dieser Eltern versuchen, deren Leid zu lindern und übernehmen früh Verantwortung für sie. Wenn ihre Bemühungen – zwangsläufig – misslingen, fühlen sie sich schließlich sogar schuldig. Es erscheint ihnen so, als hätten sie sich nicht genug angestrengt. Und so strengen sie sich aus diesem Schuldgefühl heraus umso mehr an. Hieraus erwächst eine grundlegende, das ganze Leben durchziehende Bereitschaft, sich im Kümmern um den Anderen zu übernehmen. Diese Dynamik, einen anderen zu tragen, statt zu stützen, führt in die Logik der Anstrengung und Verausgabung.
Häufig sind die „Leidenden“ am Einschnappen dieser Logik keineswegs unbeteiligt. Sie nutzen mehr oder weniger bewusst ihr Leidensrepertoire zur Manipulation des Gegenübers. Subtil signalisieren sie: „Ich kann das nicht. Kümmere dich um mich. Mach du es.“ Oder ähnlich. Aber es kann durchaus auch direkter und drastischer heißen: „Wenn du mich verlässt, kann ich nicht mehr leben.“ Implizit oder explizit wird dem Gegenüber auf diese Weise die Verantwortung für das eigene Leben zugeschoben.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie geradezu existenziell der Konflikt ist, der sich aus der beschriebene Dynamik ergibt: Opfere ich meine vitalen Lebensinteressen, damit du dich lebensfähig siehst – oder bewahre ich sie. Hier wird Abgrenzung lebensnotwendig. Diese Abgrenzung ist keineswegs Produkt von Herzlosigkeit, sondern essentieller Bestandteil einer überlebenswichtigen Separation und Zurückweisung von Verantwortungsdelegation. Manchmal – und das ist aus meiner Erfahrung gar nicht so selten – erfordert das sogar die innere Bereitschaft, den Anderen ganz gehen zu lassen.
Machen wir uns das Problem des anderen zu eigen, überfordern wir uns also nicht nur selbst u.U. bis zur Aufgabe eigener Lebenswünsche; wir nehmen dem anderen zugleich die Verantwortung ab. Dessen Problem wird auf diese Weise nur verwässert, weil er es nicht wirklich anzupacken braucht – das wiederum verstärkt den Druck, es zu tragen. Eine Sisyphosarbeit, die in Anstrengung und Erschöpfung mündet.
Und mehr noch: im Versuch, das Leid des anderen zu übernehmen, entmündigen wir ihn. Dies geschieht schon allein dadurch, dass wir ihm nicht die Verantwortung darüber lassen, sich seinen Problemen zu stellen. Darüber hinaus entmündigen wir dadurch, dass wir uns die Kontrolle über die Situation anmaßen: Wir entscheiden, was ihm zuzumuten ist, wir entscheiden (z.B. als Ehepartner), ob er die Wahrheit verträgt, unsere Tendenzen zur Trennung oder was auch immer. Und in aller Regel unterschätzen wir unser Gegenüber.
Als Kritiker dieser Tendenz des Mitleids wird häufig Nietzsche zitiert. Und tatsächlich benannte er diese Gefahr der entmündigenden Anmaßung: „Als ich ihm (dem Leidenden) half, da verging ich mich hart an seinem Stolze.“ (Zarathustra) Nietzsches Kritik ist jedoch eingebunden in eine Ablehnung des Mitleids schlechthin. „Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen.“ „Mitleiden ist zudringlich.“ Er schüttete das Kind mit Bade aus, in dem er eine entmündigende Form des Helfens als wesensgebunden ans Mitleid heftet. Auch wenn er zu recht eine den Anderen einengende, ja sich selbst u.U. über den anderen überhebende Handlung und Haltung kritisiert, sieht er dennoch eine mögliche als zwingende Folge des Mitleids an. Er brandmarkt so das Mitleid als solches und taugt aus meiner Sicht damit nicht als Zeuge einer mündigen Begegnung. Er bereitet vielmehr den Boden für die Brutalität des „Herrenmenschen“.
Mitgefühl ist Ausdruck einer basalen menschlichen Anlage, uns vom Mitmenschen berühren zu lassen, mitzuschwingen. Geht diese Fähigkeit verloren, oder kann sie sich gar nicht erst entwickeln, wird es gefährlich, tendenziell sogar kriminell: denn ohne Mitgefühl gibt es weder ein Unrechtsbewusstsein noch Schuldgefühl.
Unser Mitgefühl befähigt uns zum Mitschwingen in alle Gefühlsrichtungen, also auch zum Mitleiden. Und aus dem Mitleiden erwachsen Anteilnahme, Trost und Hilfsbereitschaft als Basis von Humanität. Auf dieser Basis kann Wachstum gelingen, wenn wir uns nicht in einem falsch verstandenen Helfen verlieren. Es geht um den Weg zu menschlicher Begegnung, die die Entwicklung des Leidenden achtet und fördert und den Helfenden nicht überfordert. Der Impuls zu helfen braucht als Korrektiv die Achtsamkeit für sich selbst. Sie kann zur Quelle für den Mut werden, der zu innerer und äußerer Abgrenzung von übernommener oder delegierter Verantwortung befähigt.