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Nähe-Angst

„Ich habe Angst vor Nähe“. Als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte, konnte ich es nicht glauben. Denn ich wusste aus unserer gemeinsamen Arbeit, dieser Patient fühlte sich zugleich einsam. Er war zwar beruflich in vielfältigsten Kontakten, jedoch nur oberflächlich in freundschaftliche Beziehungen eingebunden.

Was ich bis zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt hatte, war Verlassenheitsangst, also eine Angst, verlassen zu werden oder sich einsam und verlassen zu fühlen. Die Angst vor Nähe hingegen war mir fremd. Nichts schien mir daher selbstverständlicher, als von einem Wunsch nach Nähe und Verbindung auszugehen. Also fragte ich (mich und meinen Patienten): „Meinen Sie tatsächlich Angst vor Nähe? Geht es nicht vielmehr um die Angst, keine zu finden, in diesem Wunsch nach Nähe zurückgewiesen und enttäuscht zu werden? Ich bringe das nicht zusammen mit ihrem mir bekannten Wunsch nach liebevollen Beziehungen. Wie kann das sein? Wovor genau haben Sie Angst?“
Wie kann es also sein, dass wir uns nach Nähe sehnen und sie zugleich ängstlich vermeiden?
Was mir bis zu dieser zunächst rätselhaften Begegnung vertraut war, war gewissermaßen nur eine erste Hürde im Umgang mit Nähe: der Rückzug als Ausdruck der Hilflosigkeit, Nähe herzustellen, um Einsamkeit zu überwinden. Hier dominiert die innere Überzeugung, keinen Platz oder kein Recht auf einen Platz zu haben, eine Vorstellung, die Resultat früher Erfahrungen ist: Ich habe entweder Zurückweisungen und Abwertungen erlebt; oder ich habe mich zurückgenommen, um meine Eltern, Geschwister zu schonen und zu versorgen, weil ich sie als schwach, ungeschützt, krank, hilfsbedürftig wahrgenommen habe. Um sich aus dieser erfahrungsgestützten Weltsicht hinaus zu wagen, braucht es die Einsicht, dass es keine äußere Grenze ist, sondern eine innere Schwelle. Es braucht Mut, diese innere Barriere zu überwinden.
Die erste Schwelle zur Nähe ist also die Angst vor Zurückweisung oder das Empfinden eines Mangels an Berechtigung.
Diese Befürchtung kann ich durch Überprüfung überwinden: stimmt es heute noch, dass ich (wie früher) immer noch Zurückweisung, Abwertung, Ablehnung erfahre? Woher weiß ich, dass kein Raum für meine Bedürfnisse vorhanden ist? Wenn ich dieses Wagnis eingehe, also selbst experimentierend beginne, Nähe herzustellen und erfahre, dass nicht der andere mich zurückschickt, vielmehr ich selbst den Raum für Begegnung nicht ausschöpfe, wenn ich also neu lerne, Nähebedürfnisse zu befriedigen, erfüllt mich zunächst ein warmes, glücklich-berührtes Gefühl – doch im nächsten Atemzug erreicht mich vielleicht eine nächste Welle von Angst. Ich habe es in der Gruppentherapie oft erlebt, dass nach einer tiefen Arbeit, in der ein Mensch diesen Schritt gegangen, sich also als Nähebedürftiger anvertraut hatte und anschließend friedlich und gelöst in den Armen eines anderen Menschen entspannte, froh, endlich Platz für seine Bedürfnisse genommen und bekommen zu haben, dass dieser Mensch wenige Stunden später in eine mich vollkommen überraschende Unzufriedenheit und Feindseligkeit verfiel. Erst allmählich begriff ich, dass dieser Mensch nun von einer weiteren Schicht von Angst erfasst war, einer ersten Facette der Nähe-Angst.

Sie besteht in der unsicheren Frage: Kann ich mit meinen Bedürfnis nach Nähe bestehen?
Die zweite Schwelle zur Nähe ist die Angst, mit meinem Nähe-Bedürfnis nicht zu genügen, mit ihm ein Nichts zu sein.
In der Nähe stehe ich in gewisser Hinsicht nackt (eigentlich echt) vor meinem Gegenüber. Es erreicht mich eine quälende Vorstellung von der eigenen Unvollkommenheit, nichts zu bieten zu haben, nicht zu genügen, letztlich als bedürftiges Wesen (und mit allem, was mich ausmacht) nicht liebenswert zu sein. Möglicherweise setzt sofort eine innere Getriebenheit ein, etwas zu leisten, etwas für den anderen zu tun, um mir diese Zuwendung zu erarbeiten; ich kann mir nicht vorstellen, sie einfach zu bekommen. Oder ich erwarte Verachtung und verachte mich selbst; ich befürchte, dass das sichtbar gewordene Bedürfnis mich blamiert. Ich schäme mich dafür, es zu haben und mich in der therapeutischen Arbeit vielleicht sogar darauf eingelassen zu haben, ihm Raum zu geben. So bin ich von der Vorstellung beherrscht, dass ich in dieser Nacktheit ohne Schutzmöglichkeit dastehe, dass mich daher jede Vorstellung einer Distanzierung, eines Belächelns, ja möglicherweise eines bloßen ein Unverständnis im Kern zerstören würde.
Beginne ich, mich dem weiter anzunähern, mein Bedürfnis einzugestehen und anzunehmen, es in Begegnungen einzubringen, kann ich die Erfahrung machen, nicht nur die Achtung der anderen (z.B. der Mitglieder einer Gruppe) nicht zu verlieren, sondern stattdessen vielmehr echte menschliche Begegnung und wohlwollende Nähe zu erleben, aus der allmählich tiefere Verbundenheit erwächst, ja, dass die Verbindung umso tiefer und befriedigender wird, je mehr ich es wage, mich zu zeigen.
Beginne ich daher, gestützt auf solche Erfahrungen, mich weiter in das Wagnis der un-verschämten, unverhüllten offenen Begegnung einzulassen, dann erreicht mich u. U. eine neue Welle von Angst, die Angst vor Abhängigkeit und dem Verlust des eigenen Willens oder Selbst. Kann ich in der Nähe bestehen? Diese Frage erscheint mir als eine weitere Facette der Nähe-Angst.

Befürchtung, dass der Nähewunsch in die Selbstaufgabe führt


Die dritte Schwelle ist die Angst, in der Nähe schutzlos zu sein und in ihr zugrunde zu gehen. Wenn ich in dieser tiefen Offenheit vor dem anderen stehe, erlebe ich mich ungeschützt und ausnutzbar. Es dominiert die Befürchtung, dass der andere, den ich so brauche, mich manipulieren kann, weil ich getrieben von meiner tiefen Sehnsucht nach Verbindung zu allem bereit sein könnte, um den Anderen zu erreichen oder nicht wieder zu verlieren, einschließlich der Bereitschaft, mich völlig unterzuordnen. So beherrscht mich die Befürchtung, dass mich der Nähewunsch in die Selbstaufgabe führt, mich in einen willenlosen Spielball meines Gegenübers verwandelt. Hier entsteht der Moment, wo ich mein Nähebedürfnis zu hassen beginne, weil es mich in eine kindliche Selbstaufgabe führen und wieder verletzbar machen könnte. Ich stehe jetzt in der Gefahr, mein Bedürfnis nach Nähe zu vernichten, um mich selbst nicht einer befürchteten Vernichtung auszusetzen. Ich stehe in der Gefahr, alles Bedürftige und Zarte an mir (und anderen) zu hassen, es als schwach, minderwertig oder wertlos abzutun, es mit Zwang und Härte beherrschen oder ausmerzen zu wollen. Dies gilt in gleichem Maße für Menschen, die in mir das Bedürfnis nach Nähe anrühren – sie sind der inneren Zerstörung preisgegeben, und die äußeren Bande der Beziehung werden ebenso zerrissen.
In der Gestalttherapie ist es eine Technik, inneren Anteilen eine äußere Gestalt zu geben, z.B. für diesen inneren Anteil des Nähebedürfnisses einen Gegenstand auszuwählen, etwa ein liebenswertes kuscheliges Stofftier. Ich habe es viele Male erlebt, dass ein/e Patient/in – wohlwissend dass es ein Teil von ihm/ihr war – dieses Stofftier nach Strich und Faden verprügelt hat, es umbringen und vernichten, es loswerden und wegschmeißen wollte. Eine Patientin nannte dies im Nachhinein ihre KZ-Stunde. Mein Entsetzen über die tödliche Konsequenz dieses Handeln verwandelte sich allmählich in ruhige Zuversicht, als ich begriff, dass man mitunter einen solchen zerstörerischen Weg bis zu Ende gehen muss, um umkehren zu können. Wenn ich auf diese Weise in emotionaler Tiefe erfasse, dass ich selbst damit die Verbindungen nach außen abtrenne, dass ich mir gewissermaßen die Arme abhacke, mit denen ich Verbindung herstellen kann, so führt mich das an die Grenze, an der ich mich zur Umkehr entscheiden kann, an der ich erfahre, dass ich um den Preis des eigenen Untergangs das Wagnis eingehen muss, meine Arme wieder auszustrecken.
Diese Entscheidung ist der Ausgangspunkt für die Überwindung der dritten Schwelle. Wir überwinden sie, indem wir von hier aus neue Erfahrungen in Gang setzen, die uns begreifen lassen, dass wir nicht mehr in der ausgelieferten Abhängigkeit eines Kindes leben, dass unser Herz zwar verletzbar bleibt, wir uns als Erwachsene gleichwohl schützen können. Indem wir unseren alten Schmerz annehmen und durchleben, dieser wahnsinnigen Schmerz, der sich als Folge davon, offene und liebevolle Begegnung nicht zu kennen, als tiefer Verlassenheitsschmerz eingebrannt hat. Indem wir in geschützter und liebevoller Begleitung allmählich neu erfahren, dass wir diesen Schmerz nicht nur überleben, sondern frei werden für tiefe Begegnungen offener Herzen, aus denen heraus wir die Kraft für die Bewältigung von neuen Verletzungen schöpfen. Indem wir in Abhängigkeit und Verletzbarkeit als Schattenseite tiefer Beziehungen einwilligen.
So bewegen Menschen mit Näheangst sich in deren Bewältigung spiralförmig in immer tiefere Ebenen der Selbstfindung und Selbstannahme, im Spannungsfeld von: sich abwerten oder wichtig nehmen, sich abwenden oder verbinden, von Einsamkeit oder Nähe, von Rückzug oder Bleiben, manchmal sogar bis hin zur Entscheidung über Abwendung vom Leben oder Lebensbejahung.