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Rührung

Christa erzählt von einem Besuch bei den Eltern. Nach einiger Zeit der Therapie bei mir ist es das erste Mal, dass sie davon erzählt, wie sehr sie sich von ihnen gesehen fühlt. Sie konnte bei dieser Begegnung mit ganz warmen, liebevollen Gefühlen auf ihre inzwischen alt gewordenen Eltern schauen. Ihre Augen beginnen feucht zu werden. Und in genau diesem Moment will sie auch schon schnell wieder weg von diesem Gefühl der inneren Rührung. Undenkbar noch, gar den Eltern gegenüber diese liebevolle Gerührtheit zu zeigen.

Rührung ist ein eher zartes Gefühl – kein so gewaltiges wie ein Wutanfall oder eine Trauerwelle. Vielleicht werden die Augen feucht oder es kullert eine Träne. Ein anderes Mal versagt die Stimme, wenn sie hochschwappt. Dann erreicht sie mitunter durchaus die Qualität einer sanften Überwältigung. Ihre Tränen sind jedoch keine Tränen der Trauer. Diese Tränen sind Ausdruck inneren, oft sogar freudigen Aufgewühltseins. Was sie signalisieren, ist: Hier ist mein Herz berührt, ich bin mit Herzblut beteiligt.

Damit wird Rührung zur Perle der Begegnung, ein Geschenk für mein Gegenüber, das über meine Rührung erfährt, wie sehr es mich erreicht. Rührung verbindet also: sie ist Resonanz auf körperliche oder emotionale Berührung. Sie ist die Antwort des Herzens auf eine Berührung von Herzen. Wer sie nicht wegschiebt und unterdrückt, sagt seinem Gegenüber tiefer als mit Worten möglich: „Du hast mich erreicht, du bist bei mir angekommen!“ Rührung ist somit das Gefühl der inneren Ergriffenheit und wird – wenn sie sichtbar werden darf – zum Elixier einer liebevollen Verbindung.

Mutprobe für den Gerührten

Zugleich wird Rührung zu einer Übung in Wahrhaftigkeit. Sie wird zu einer Mutprobe für den Gerührten, der sich in seiner inneren Ergriffenheit offenbart, es wagt, seine ganze Lebendigkeit in die Begegnung einzubringen, weil er nicht zurückscheut vor einem etwaig abfälligem Lächeln oder der schamhaften Abwendung.
Gerührt-Sein gibt Zeugnis vom Berührt-Werden, sei es durch ein unmittelbares Gegenüber oder durch ein vermitteltes Drittes. Es ist Zeichen der eigenen Lebendigkeit und der Lebendigkeit der Begegnung. Wer im Unterschied dazu ungerührt und unberührbar ist, scheint hingegen unlebendig und unzugänglich, kann schwer bei sich ankommen und es kann kaum jemand bei ihm ankommen.
Nicht zuletzt in der Therapie ist gerade dieses Ankommen wichtig und heilsam. Wie oft habe ich als Therapeut erlebt, dass meine erkennbare innere Rührung meinem Gegenüber ein tiefes Gefühl des Verstanden und Angekommen-Seins gegeben haben.

Manchmal enthält das Berührt-Sein jedoch zugleich noch ein Element schmerzender Traurigkeit. Sie erscheint dann als innere Ergriffenheit im Ergebnis einer Mixtur von Freude und Schmerz, von Dankbarkeit und Traurigkeit oder anderem. Dafür ein Beispiel: Peter erzählt voller Freude davon, wie sehr er nach einigen Jahren Therapie inzwischen Stolz auf sein Leben sein kann. Er spürt eine große Dankbarkeit darüber, dass er, dessen Leben lange von Unsicherheiten, Ängsten und Selbstzweifeln geprägt war, nun mit innerer Ruhe und selbstbewusst durchs Leben navigieren kann. Im Erzählen kommen ihm Tränen der Rührung.
Aus meiner Sicht treffen sich in dieser Schilderung zwei Zeitachsen in einem Strom des Erlebens, der zugleich zwei Gefühlsdimensionen umschließt: das gegenwärtige bewegende Glücksgefühl mischt sich mit der Trauer darüber, das gerade dankbar Erfahrene in der eigenen Geschichte schmerzlich vermisst zu haben und löst eine Sehnsucht in die Vergangenheit aus. So verleiht der vergangene Hintergrund der aktuellen Freude einen wehmütigen Glanz. Als „traurigfroh“ beschreibt Hölderlin (Heidelberg, 1800) eine Gemengelage von Abschied und Neubeginn, ein Wort, das auch zu dem in der Rührung mitunter anzutreffenden Nebeneinander widersprüchlicher Gefühle passt.
Die Folie der Vergangenheit gibt der Rührung also mitunter eine zusätzliche Tiefe. Dies tiefe innere Erleben ist für mich das Wesentliche an der Rührung. Ich bedauere es daher, wenn es auf einer Familienfeier, beim Kinobesuch oder gemeinsamen Musikhören vielfach die Tränen der Rührung verstohlen beiseite gewischt werden. Geteilt sind sie gelebte Offenherzigkeit und Wahrhaftigkeit.