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Schuldgefühl und Unvollkommenheit

Schuld, Teil 2:

Wieso um alles in der Welt empfinden Menschen (subjektiv) Schuld, obwohl sie nach gängiger Vorstellung (objektiv) keine haben? Wie geraten sie in einen schuldbeladenen Zustand, ohne sich schuldig gemacht zu haben? Und was kann ihnen helfen, diesen zu überwinden?

Die jugendliche Tochter einer Klientin wurde auf einem Campingplatz vergewaltigt. Unmittelbar nach dem Überfall war es dem Mädchen unmöglich, darüber zu sprechen. Es verging wertvolle Zeit, in der vielleicht die Täter noch hätten verfolgt werden können. So kamen sie ungeschoren davon. Erst einige Stunden nach der entsetzlichen Tat bemerkte die Mutter eine Stimmungsveränderung bei ihrer Tochter, fragte sie, was los sei. Erst jetzt wurde dieses Trauma besprechbar.
Die Mutter fühlte sich schuldig, dass ihrer Tochter so etwas geschehen konnte, dass sie sie nicht richtig erzogen hatte, damit sie schneller hätte reden und die Täter hätten gefasst werden können. Wenn sie besser aufgepasst hätte, wenn sie schneller die Veränderung der Tochter bemerkt hätte, wenn, wenn, wenn … So verschob sich allmählich die Verantwortung der Tat auf die (Mit-) Betroffene. Das hilflose Entsetzen, der Schock über das Erlebte wandelten sich im Lauf der Zeit in Schuldgefühle. Ich war verwundert und bestürzt. Ich konnte nicht verstehen, wieso die Mutter sich schuldig fühlte. „Was hast du getan? Was ist dein Vergehen? Welches Gericht würde dich schuldig sprechen? Wen würdest du um Verzeihung bitten?“

Die – vermeintliche – Unzulänglichkeit bildete den Nährboden für das Schuldgefühl

Wie kann es sein, dass der eigentliche Täter so aus dem Blickfeld verschwindet? Mit solchen Fragen begaben wir uns auf die Suche nach den Wurzeln dieses diffusen Schuldgefühls. Schrittweise wurde deutlich: es waren alte, tief verwurzelte Selbstzweifel, die meine Klientin verunsicherten. Jedes Problem, jede Frage wertete sie als einen Hinweis auf ihr Versagen, ihre empfundene Unzulänglichkeit. Allmählich kristallisierte sich heraus: die – vermeintliche – Unzulänglichkeit bildete den Nährboden für das Schuldgefühl. Ihre große Schuldbereitschaft war Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, einer übergroßen Bereitschaft, sich in Frage zu stellen, sich als mangelhaftes Wesen zu sehen und gering zu schätzen. Ein keineswegs ungewöhnlicher Vorgang, wie ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt. Schon Kant sah einen gewissen Grad von Schuld infolge „der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zur Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein“.

Er unterscheidet diese unvorsätzliche Schuld jedoch deutlich von der vorsätzlichen, die auf dem „Hang zur Annehmung böser Maxime“ beruhe. Auch wenn ich es vorziehen würde, in solchen Fällen nicht von Schuld zu sprechen, so verweisen doch Kants Überlegungen darauf, dass es keineswegs ungewöhnlich ist, Verbindungen von Unzulänglichkeit und Schuld herzustellen. Auch Freud fand: „Minderwertigkeitsgefühl und Schuldgefühl sind überhaupt schwer auseinanderzuhalten.“
Was half?
Die Klientin überwand ihre Scham und setzte durch die Aussprache (zunächst mit mir) (Mit-)Teilung an die Stelle eines grüblerischen Kreisens in den eigenen Gedanken. Sie begann, die Unterscheidung von Schuld und Unvollkommenheit innerlich nachzuvollziehen. Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheit und Grenzen ohne (Selbst-)Abwertung ersetzte langsam die Furcht vor der vermeintlichen eigenen Minderwertigkeit. Sie konnte das Maß der bestmöglichen an die Stelle desjenigen der idealen Mutter setzen. Dazu trug auch ihre Teilnahme an einer Gruppe bei. Die verständnisvollen Reaktionen der übrigen Gruppenmitglieder halfen ihr, die Macht ihrer selbstabwertenden Instanz zu relativieren.
Ganz durch sind wir noch nicht. Ich bin sicher, es würde ihr gut tun, Ärger und Wut auf die wirklichen Täter zu entwickeln. Das wäre ein innerliches Hinbringen der Schuld an die Stelle, an die sie hingehört.

Schuldgefühl als Pflaster der Ohnmacht