Wer kennt das nicht?! Man/frau tauscht sich mit dem Partner oder Freunden aus, klagt über alltägliche Widrigkeiten auf der Arbeit, die schwierige Chefin, den nervige Kollegen, den furchtbaren Kunden usw. Es geht um Austausch und darum, sich ein wenig zu Luft machen, Verständnis zu finden. Ziel ist nicht die Suche nach Lösungen, sondern eher eine Art alltäglicher Psychohygiene, Reinigung von den Lasten des Tages. Erzählt – vergessen.
Doch was, wenn sich diese Geschichten wiederholen, wenn wir als Partner, Kollege, Therapeut, Freund sie beständig wieder hören, immer wieder das Klagelied darüber, wie übel einem mitgespielt wird, wie sehr jemand unter einer Person oder Situation zu leiden hat? Dann wandelt sich in der Regel unsere Haltung vom Verständnis ins Genervtsein, von Anteilnahme in Ermüdung. Vielleicht schleicht sich sogar allmählich das Gefühl ein, benutzt zu werden. Doch wofür? Und: Darf man das sagen?
Ein Beispiel: Frau C. klagt darüber, dass Ihre Chefin seit Wochen krank fehlt; keiner weiß warum, das Wort Burn-Out macht die Runde. Für alle Kolleginnen entstehen Mehrbelastungen, und sie versuchen zu kompensieren, was durch den Ausfall an Lücken entsteht. Bald sind alle überlastet. Die Stimmung kippt, man fängt an, über die Chefin zu schimpfen, die keine Infos gibt. Alle warten auf ein Zeichen (von oben), wie es weiter geht und in dieser Beschwerdestimmung kommt die Patientin zu mir.
In solchen Zusammenhängen stelle ich dann zumeist die Frage: „Was soll der andere Dir abnehmen, wenn du so über ihn klagst?“ So auch hier in der Variante: „Was soll die Chefin Ihnen abnehmen, wenn Sie so wütend und enttäuscht sind?“ Die schnell gefundene vordergründige Antwort lautete: sie soll mich endlich von meiner Überlastung befreien. „Haben Sie schon mal überlegt, selbst – vielleicht mit den Kolleginnen zusammen – dafür zu sorgen?“ Und – so forsche ich weiter: „Welche innere Fähigkeit wäre von Ihnen gefordert, das selbst in Gang zu setzen?“ Es wird ihr schlagartig deutlich, dass es um ihre Ängste geht, sich abzugrenzen, sich zur Wehr zu setzen, aktiv „Nein“ zu der verlangten Überbelastung zu sagen. Mit dem Verbleiben im Klagen weicht sie dem Blick auf ihre Ängste aus und braucht es nicht zu wagen, selbst für sich zu sorgen. Vermittels der Klagen über die Chefin umgeht und blockiert sie die Entwicklung der eigenen Fähigkeit, Konflikte offen auszutragen.
Fast immer liegt im „Jammern und Klagen“ ein ungelöster, meist unbewusster, manchmal geradezu verweigerter Entwicklungsschritt.
Diese Art sich wiederholender Klagen hat also offenkundig einen anderen Sinn als das Beklagenswerte zu überwinden. Fast immer liegt im „Jammern und Klagen“ ein ungelöster, meist unbewusster, manchmal geradezu verweigerter Entwicklungsschritt. Um die eigene Entwicklungsschranke nicht zu spüren, bekräftigen wir eher die Unabänderlichkeit einer Situation: es ist alles einfach nur schlimm, Veränderungen erscheinen definitiv unmöglich oder unvorstellbar. Die Bekräftigung dieser Aussichtslosigkeit steht ganz im Dienste einer Rechtfertigung der Passivität des Erzählers. Dessen ganze Energie fließt in die Bestätigung seines Ausgeliefertseins, seines Opferstatus, statt Wege einer Lösung zu suchen. So wird das Beklagenswerte zementiert. Unter Selbstmitleid verstehe ich also eine situationsbezogene – gesteigert ist es eine zum Charakterzug gewordene – Haltung, die im „Jammern und Klagen“ verbleibt und keinen wirklichen Veränderungsimpuls enthält.
Das Problem bleibt immer bei den anderen
Was bekommt man dafür? Die Ernte fällt zunächst gar nicht so schlecht aus: Die Klage wirkt als Signal zur Mobilisierung von Verständnis, Zuwendung und tröstender Annahme. Man erfährt eine Solidarisierung gegenüber aversiv besetzten Situation oder Personen. Die eigene Sicht auf das Problem wird zumeist bestätigt. Auf diese Weise . Man braucht sich nicht selbst in Frage zu stellen, muss sich nicht mit den eigenen Anteilen an der Ungemütlichkeit der Situation zu beschäftigen. Die zunächst vermutlich positive Wirkung erstirbt allerdings irgendwann in Genervtheit der Zuhörer – sofern sie den Mut haben, dazu zu stehen – oder im Rückzug der Tröstenden. Denn die anteilnehmenden Begleiter, die sich auf das Leid ihres Gegenübers einschwingen, machen sich in aller Regel Gedanken, entwickeln Ideen und Lösungsvorschläge, was man vielleicht tun könnte – doch alle diese Ideen werden in der Regel als ungeeignet, aussichtslos oder überfordernd zurückgewiesen. An dieser Stelle gelingt den Erzählern paradoxerweise ausgezeichnet das, was sonst (auch im obigen Beispiel) oft fehlt: Abgrenzung. So wird auf Dauer auch der Einfühlsamste frustriert und ermüdet – und ist seinerseits nun selbst herausgefordert, sich abzugrenzen oder eine Konfrontation zu wagen – auf die Gefahr hin, als unsolidarisch und verständnislos zu gelten.
Wenn einem am Wohl des „Klagenden“ und an der Qualität der persönlichen Beziehung zu diesem gelegen ist, dann möchte ich ausdrücklich dazu ermutigen. Noch ein Beispiel aus eigener Erfahrung, das verdeutlichen soll, wie das Jammern Resultat einer inneren Blickverengung ist, also auf einen nicht gelösten und auch nicht angepackten inneren Konflikt verweist: Bevor ich je die Absicht verspürte, Psychotherapeut zu werden, hatte ich gemeinsam mit einem Partner eine Firma gegründet und aufgebaut. Obwohl sich das Projekt gar nicht schlecht entwickelte, wandelt sich im Verlauf der Jahre meine Motivation, bis ich irgendwann nur noch lustlos meiner Aufgabe als Geschäftsführer nachkam.
So hörte mich mein Umfeld regelmäßigen klagen und schimpfen, ohne dass (s)ich was änderte. Ich verharrte in der Firma, blieb trotz aller Unzufriedenheit und allem Ungemach. Was hat mich gebunden und im Klagen verhaften lassen? Mich quälte die Sorge, dass all das Aufgebaute ohne mich nicht überleben würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, meine eigene Entwicklung höher zu stellen als das Wohlergehen der Firma mit ihren inzwischen mehr als 20 Mitarbeitern. Erst als ich innerlich bereit war, auch um den Preis eines potenziellen Scheiterns der Firma für mein eigenes weiteres Wohlergehen zu sorgen, konnte ich mich lösen. Ich konnte zuvor auch deshalb keine praktischen Lösungen sehen, weil ich dafür noch keinen inneren Raum hatte. Der notwendige Entwicklungsschritt, um aus dem unzufriedenen Klagen herauszukommen, war also die Überwindung meines übertriebenen Pflichtgefühls. Die lähmende und ermüdende Wirkung von Jammern, das sich bis zum Selbstmitleid steigert, lässt sich nur durch eigene Anstrengung überwinden. Sie erfordert, sich zu stellen: den ungelösten Themen ebenso wie konflikthaften Beziehungen. Manchmal fällt mir in diesem Zusammenhang ein Spruch aus meiner Jugendclique ein, etwas grobschlächtig, doch mit einem wahren Kern: „Nicht jammern und picheln, sondern hämmern und sicheln.“
„Beipackzettel“ – Achtung!
„Stell dich nicht so an! Hör auf zu jammern. Weichei! Nimm Dich nicht so wichtig.“ usw. sind die wohl meistgebrauchten Abwertungen, um jemanden von seinen eigenen Interessen abzubringen, seinen Schmerz zu bagatellisieren oder seine Ablehnung und Grenzen zu unterlaufen oder zu übergehen. Es ist daher für mich nicht leicht, einen Beitrag zu verfassen, der so verstanden werden könnte, also würde ich in dieselbe Kerbe schlagen. Gehört es doch für mich zu den Grundzügen therapeutischen Handelns, Menschen darin zu ermutigen, ihre ursprünglichen Impulse, Gefühle wie Trauer und Wut, Verletzungen infolge von Grenzverletzungen u.a. ernst zu nehmen. Also Verständnis und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln, das Klagen und Anklagen einschließt. Oft ist dieses Gefühl für sich selbst unter einer Halde von Abwertungen zugeschüttet, und in den allermeisten Fällen ist es für Menschen zunächst mühselig, sich davon frei zu machen. In solchen Prozessen des beginnenden Selbst-Ausdrucks wäre die Aufforderung, sich der eigenen Verantwortung zu stellen, kontraindiziert. Sie würde dann gerade das verfestigen, was ich aufzulösen anstrebe: zu viel auszuhalten (Starre), sich nicht anzuvertrauen (Einsamkeit), sich keine Luft zu machen (Atemverflachung) u.a. Dieser Text darf nicht dazu benützt werden, diese Halde noch weiter zu verdichten. Doch die Existenz dieser Halde sollte andererseits nicht zur inneren Legitimation herhalten, sich nicht ändern zu können und auch nicht zur Verbannung der Begriffe ‚Jammern‘ und ‚Selbstmitleid‘ aus dem Sprachgebrauch. Die Lösungsperspektive liegt zwischen dem Pol des Übergehens der eigenen Gefühle einerseits, wie sie so oft mit fatalen Folgen verlangt wird, und dem Pol des sich Hineinfallenlassens in die Aussichtslosigkeit andererseits: zu handeln, sich zu bekennen, loszugehen in eine neue Richtung zusammen mit allen Gefühlen. Dann wird aus Klagen Anklage, aus Schmerz Wut, aus Ohnmacht Widerstand.