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Selbstwertgefühl und narzisstische Verletzung

Das Selbstwertgefühl gehört zu den Persönlichkeitsanteilen, die so bedeutsam sind, dass sie das ganze Verhalten eines Menschen durchwirken. Doch obwohl es von so zentraler Bedeutung ist, kann man sich ihm nicht direkt, nicht unmittelbar zuwenden. So wie man nicht „Obst“ essen kann, sondern nur Äpfel, Birnen, Kirschen usw., so kann man das Selbstwertgefühl nicht als solches anschauen – und es ebenso wenig als Abstraktum aufbauen, stützen oder stärken. Der Weg zum Selbstwertgefühl führt eher über die „Obstsorten“, also jeden Gedanken, jedes Gefühl, jeden ersten Impuls, jeden Teil von mir, den ich wahrnehmen, dann ernst nehmen und schließlich nach außen vertreten lernen kann.

Obwohl das Selbstwertgefühl sich also dem unmittelbaren Zugriff entzieht, ist ein Mangel daran gleichwohl spürbar. Er begegnet uns in verschiedenen Erscheinungsformen: als übergroße Anstrengung, innerer Druck, starke Schuldbereitschaft, Anspannung und Unsicherheit, in nicht zu Ende geführten Sätzen, wiederkehrenden Selbstabwertungen, Angst vor Fehlern, Scham u.a.m. Genauso kann der Mangel sich in eher „lauten Formen“ äußern, etwa als Pseudosicherheit, Aufdringlichkeit, Egozentrik o. ä.

Der Mangel an Selbstwertgefühl ist integraler Bestandteil fast jeden psychischen Leids und vielfach sogar eine seiner Wurzeln. Er ist einer der zentralen Gründe, die Menschen in innere Not bringen. Sie geraten unter Druck, verlieren sich, orientieren sich an anderen, passen sich an – das alles, weil sie sich selbst nicht annehmen, nicht lieben können. Sie glauben, anders sein zu müssen, um akzeptiert zu sein. Schillernde und zugleich tragische Figuren wie z.B. Michael Jackson, der mit zahllosen Operationen ein anderer zu werden suchte als er war, bietet das öffentliche Leben reichlich. Sie bilden jedoch nur die Spitze eines Eisberges, während das Gros solcher Dramen sich leiser und unauffälliger im Alltagsgeschehen abspielt, oft verborgen hinter glatten Fassaden oder vermeintlichen Idyllen.
Und selbst in der psychotherapeutischen Praxis verhindert die Scham oft lange, zu dieser inneren Not vorzudringen, sie besprechbar werden zu lassen. Es ist eine alltägliche Tragödie des Verbergens der wirklichen inneren Gedanken und Gefühle hinter einer vermeintlich sozial erwünschten Fassade. Eine Patientin formuliert das beispielsweise so: „Ich neige wohl dazu, nur einen geringen Anteil meiner selbst als präsentierbar zu empfinden. Wenn etwas nicht gut läuft, wenn ich denke, einen ,Fehler‘ gemacht zu haben, dann schäme ich mich dessen, versuche zu verstecken und zu kaschieren. Ich fühle oft ,Schlechtes‘ (Trauer, Wut, Minderwertigkeit, Neid). Wenn ich davon etwas gezeigt habe, fühle ich mich ausgeliefert. Meine ’schlechten‘ Gefühle spüre ich zwar, aber sie als berechtigt zu empfinden, davon bin ich noch weit entfernt. So bleibe ich abhängig von Bestätigung von außen, dass sein darf, was ich fühle. ,Wertvoll‘ fühle ich mich, wenn ich etwas ,leiste‘, wenn ich z.B. helfe. Das Gefühl geht ganz schnell verloren, wenn etwas nicht gut läuft. Und das passiert oft, da ich sehr hohe Anforderungen an mich selbst stelle. Das geht dann manchmal bis ins Extrem mit dem Gefühl absoluter Wertlosigkeit.“

Angst vor einer großen Leere

Am Ende steht eine Angst vor einer großen Leere, die Angst vor einer absoluten Wertlosigkeit, die aufscheinen oder gar sichtbar werden könnte: „Wer bin ich, wenn ich nichts mehr leiste, wenn ich überfordert bin oder gar zusammenbreche? Habe ich dann noch eine Existenzberechtigung?“ Die Angst, nicht zu genügen mit dem, was man getan oder unterlassen hat, treibt in Anstrengung und weitere Leistung, um die befürchtete Ablehnung und Leere nicht zu spüren, die eintritt, wenn man nichts mehr leistet, nicht mehr funktioniert. Die Angst vor Kritik, Zurückweisung oder vor dem Verlust von Anerkennung führt zur Selbstverleugnung, zum Versteckspiel. Bedürfnisse nach Unterstützung und Halt, nach Schutz und Nähe bleiben auf der Strecke. Sich abzugrenzen, „nein“ zu sagen, wird zum unüberschaubaren Risiko, ganz zu schweigen davon, sich anzuvertrauen und fallen zu lassen. Eine innere Erlaubnis für Verletzlichkeit und Überforderung gibt es nicht. Dieser Prozess mündet in Erschöpfung, mitunter bis an den Rand des Zusammenbruchs. Häufig melden sich körperliche Schmerzen (Rücken, Kopf…), seelisch stellt sich das Gefühl ein, nicht ganz da, nicht verbunden zu sein. Das Leben erscheint sinnlos, depressive Stimmungen finden Raum.

Was führt zu dieser tiefen Verunsicherung? Dies wird es leichter deutlich, wenn wir zuerst fragen, wie ein sicheres Selbstwertgefühl entsteht. Es basiert auf bereits in der Schwangerschaft beginnenden Freudezirkeln zwischen Mutter und Kind. Die Mutter reagiert freudig auf das Kind, das Kind erlebt die stimmlich-emotionalen-nonverbalen „Antworten“ der Mutter als elementare Bestätigung. In gut verlaufenden Mutter-Kind Beziehungen finden bereits in den ersten sechs Lebensmonaten rund 30.000 Mal solche Freudezirkel statt, die das Fundament für ein positives Selbstwertgefühl legen, weil sie im seelischen Erleben die Erfahrung verankern, ein freudeerzeugendes, geliebtes Wesen zu sein. So verwandelt sich der Glanz in den Augen der Eltern sukzessive in Selbstwertgefühl des Kindes.

Umgekehrt schreibt sich das Kind negative Gefühle der Bezugspersonen wie Angst, Ärger, Ablehnung oder gar Ekel ebenso zu wie Freude. Auch Beziehungsabbrüche als Folge von Sorgen, Überforderungen oder gar psychischer Erkrankungen der Eltern bringt ein Kind fast immer mit sich selbst in Verbindung. Im weiteren Entwicklungsverlauf können ähnliche Prozesse fundamental verunsichern: Ängste, Verunsicherungen und Selbstwertmängel von Bezugspersonen werden ebenso wie Lebensskripte der Familien („Wir sind doch immer nur Verlierer“) schon früh übernommen und Teil des Selbsterlebens. Wird die Freudedimension durch die Leistungs- und Bewertungsdimension ersetzt oder überlagert, wird ein Sich-Zeigen und Freudig-Gesehen-Werden abgelöst durch den Vorrang von Lob und Bewertung, entsteht ein subtiler Druck, immer neu Leistung für Anerkennung zu generieren. All dies ist unterfüttert durch ein gesellschaftliches Leitbild von Erfolg und Leistung, in dem letztlich die Orientierung an Aussehen, Materiellem und Karriere als Kompensation für Sinnverluste herhalten muss.

Erfahrungen des Ungewollt-Seins

Übergroße Erwartungen der Eltern – egal, ob streng, direkt oder subtil vermittelt – beinhalten für das Kind die Gefahr, die Eltern zu enttäuschen und damit eines inneren Erlebens von Scheitern und der Sorge vor Ablehnung. Ähnliche Auswirkungen hat ein selbstloses, sich den Bedürfnissen des Kindes unterwerfendes Verhalten der Eltern („König Kind“), weil es die Integration der Erfahrung des Nicht-Immer-Vorrang-Habens, von im Leben unvermeidlichen Frustrationen und auch von Erfahrungen des Verlierens oder Scheiterns in das Selbstwertgefühl erschwert. Gravierende Spuren hinterlassen Erfahrungen des Ungewollt-Seins oder frühe Verluste wie Scheidung, Suizid, unbekannte Elternteile: „Ich war es nicht wert, dass er/sie bleibt“. Ebenso tiefgreifend ist das Scheitern im „Drama des begabten Kindes“, das immer versucht, kranke oder schwache Eltern zu retten oder stützen, womit jedes Kind sich zwangsläufig überfordert und wodurch ein Nährboden für Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle bereitet wird. Weiterhin können in einer Familie abgelehnte oder abgewehrte Gefühle, z.B. durch traumatische Erfahrungen der Eltern, den Kindern vermitteln: „Diese Gefühle sind falsch. Du darfst sie nicht haben“. Wenn dann, wie in jedem Leben, Gefühle von Angst und Schmerz auftauchen, sind sie verstörend bis ungewollt. Und im Selbstwertgefühl hinterlässt dies dann die Zuschreibung: „Ich bin damit falsch und ungewollt.“

Insgesamt wird vielleicht durch diese – sicher etwas komprimierte – Aufzählung deutlich, wie vielschichtig die Gefahren einer tiefen Verunsicherung und Beschädigung des Selbstwertgefühls sind.

Doch was kann nun helfen, das geschwächte Selbst wieder aufzurichten, das Selbstwertgefühl zu stärken?

Natürlich können wir die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Es gibt ja keine Reset-Taste, mit der wir unser Leben auf Neuanfang setzen können. Was jedoch gelingen kann, ist eine allmähliche Wiederentdeckung des eigenen Wertes. Am Anfang steht dabei die Konfrontation mit der Scham. Sie ist der Wall, hinter dem alles verborgen, eingeschlossen bleibt. Allein das Wahrnehmen und Aussprechen der verborgenen Gefühle ist bereits ein elementarer Schritt zu ihrer Überwindung. Dies ist der Ausgangspunkt für eine Stärkung des Selbstwertgefühls durch die Integration der abgelehnten oder schambesetzten Anteile, wie Tränen, Hilfsbedürftigkeit, Ängste usw. Indem diese sog. ,schlechten‘ Gefühle hervorgeholt werden, bröckelt das angestrengte Bemühen, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Damit entfällt nicht nur die energieverzehrende Anstrengung, die nötig ist, eine solche Maske aufrecht zu erhalten. Zu sich selbst stehen macht stark. Wie oft höre ich dann in der Therapie nach endlich gewagter Traurigkeit und zugelassenen Tränen den Satz: „Die abgelehnten Anteile anzunehmen, fühlt sich vollständiger an. Ich dachte, ich löse mich auf, doch ich fühle mich ruhiger und stärker.“

Und weiter: jeder Schritt, seine (vermeintlichen oder realen) Schwächen oder Schattenseiten einzuräumen, kann zu der Erfahrung führen, darin nicht – wie befürchtet – abgelehnt, sondern angenommen zu werden. Die Sorge davor, verlassen zu werden, entpuppt sich in der Regel als Scheinriese. Wir können erst so die Erfahrung machen, dass diese Art von Authentizität eher verbindet, während das Verbergen der inneren Wahrheit eher trennt bzw. den anderen den Weg zu uns versperrt. Ein Patient schreibt dazu: „Ich bin nichts. Jedenfalls nichts Liebenswertes. Ich hab keine eigene Persönlichkeit, bin nur, was andere bei mir gut, schön oder liebenswert finden. Insofern muss ich dann anderen eine andere Persönlichkeit vorspielen, damit sie mich überhaupt lieben/mögen. Und so zeige ich nie mein eigentliches Selbst, sondern nur die Seiten, von denen ich annehme, dass sie den anderen gefallen. Gleichzeitig habe ich ein unendliches Bedürfnis danach, so geliebt zu werden, wie ich wirklich bin. Aber ich gebe den anderen keine Chance, weil ich mich gar nicht so zeige.“

Eine andere Patientin nannte die Sphäre hinter der Fassade einmal ihre „no look area“, und es erschien ihr zunächst unvorstellbar, diese in einen öffentlichen Sektor zu verwandeln. Doch erst dann können wir eine neue Art von Rückmeldungen der Menschen aus unserem Umfeld erhalten. Erst dann haben wir die Chance, anerkannt und geliebt zu werden, ohne etwas Bestimmtes sein oder leisten zu müssen. Oft machen Menschen solche Erfahrungen erstmals in einer Therapiegruppe, wenn sie erleben, wie sehr sie anderen auf diese Weise näher kommen.

Die Gruppe ist ein geschützter öffentlicher Raum, in dem solche Selbstöffnungen gewagt werden können. Und die vielfach überraschenden Reaktionen helfen, alte Erwartungen und Befürchtungen zu korrigieren. Sie können ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Es kann helfen, in eine neue Richtung, die der Wahrhaftigkeit, weiterzugehen. Doch Vorsicht: Kein Lob, keine Anerkennung oder Wertschätzung kann so stark sein, dass es ein stabiles Selbstwertgefühl vermittelt. Es entsteht letztlich nur durch Selbst-Respekt, der aus dem Gefühl einer inneren Stimmigkeit erwächst, die dann keiner äußeren Bestätigung mehr bedarf. Nochmal eine Patientin: „Ich überwinde meine Scham, entscheide mich, zur mir zu stehen und lasse zu, das ich in der Tiefe meiner Gefühle wahrnehmbar bin. Und das ist eine ruhige, tiefe Kraft.“

Ein Teil muss tatsächlich vergehen, damit der wahre Teil leben kann

Vielfach ist die Vorstellung, die Anstrengung für das Aufrechterhalten einer Fassade loszulassen, mit dem Gefühl verbunden, die Existenzberechtigung oder die eigene Form zu verlieren, gar zu sterben. Und in gewisser Hinsicht stimmt das auch. Ein Teil muss tatsächlich vergehen, damit der wahre Teil leben kann. Was sich zunächst wie sterben anfühlt, ist in Wahrheit eine Neugeburt.

Dazu ein Erfahrungsbericht: Ein Gruppenteilnehmer war durch die Bemerkung tief erschüttert, dass nur derjenige andere lieben könne, der sich selbst als liebenswert empfinde. Dies brachte ihn in eine tiefe Verzweiflung, in der sich vor seinem inneren Auge folgendes ereignete: „Es war furchtbar: nichts Liebenswertes in mir zu finden. Zunächst ein Abgrund, ein tiefes, schwarzes Loch. Danach das Gefühl, als sei ich zersplittert, wie eine Glasfigur, die man auf den Boden fallen lässt, wo sie in tausend Teile zerbricht. Aber dann: Die Einzelteile ziehen sich von geheimnisvoller Kraft bewegt wieder zusammen, bilden eine Figur. Die alte? Nein, nicht ganz. Irgendwie entsteht etwas Neues. Zwei Bilder sind mir in Erinnerung geblieben: Zum einen das Hinabtauchen in diesen schwarzen Abgrund, ein Taucher, der verzweifelt auf dem Grund dieses Lochs im Schlamm wühlt, Steine umdreht und etwas zu finden sucht, aber da ist nichts Liebenswertes. Zum anderen die zersplitternde Glasfigur (mein Ich), das sich dann ganz langsam wieder zusammensetzt. Das alles verleiht mir eine tiefe innere Ruhe.“

Nicht immer ist es ein so dramatisches Erleben, wenn das, was Psychologen das „falsche Selbst“ genannt haben, zerbricht und die panische Angst, dass dann nichts bleibt, sich in einen hoffnungsvollen Neubeginn verwandelt. Und dennoch ist es immer wieder die gleiche Entdeckung, dass danach nicht nur Vieles bleibt, sondern vielmehr befreit wird: Wut, Schmerz, Müdigkeit, Liebe – ein Mensch voller Gefühle – die vollständige Person, der eigentliche persönliche Reichtum, das wahre Selbst, zu dem auch die „schlechten“ Gefühle zählen. Das eigene Handeln ist nicht mehr angetrieben von der Suche nach Anerkennung, die Selbstöffnung ist nicht mehr abhängig von der Zustimmung des Gegenübers. Ziel und Motiv sind nun innere Genugtuung, Freude, Stolz und Liebe.

Es ist der Weg der Wahrhaftigkeit.

Der Weg der Wiedergewinnung dieser Seinsqualität kann sehr lange dauern, manchmal wird er vielleicht nicht vollständig gelingen. Er beginnt mit der Würdigung der leisen inneren Stimmen, führt über die Achtung für die verborgenen und abgewerteten Gefühle, verlangt nach Auflösung eines an anderen orientierten Ichs und mündet in Freude über den eigenen inneren Reichtum.

Tomas Tranströmer, dessen Zeilen mir ein Teilnehmer einer Gruppe nahebrachte, drückt es so aus:

Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich
und flüsterte durch den ganzen Körper:

Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz
in dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.

Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.