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Krisen in der Gruppe

Die positiven Negativerfahrungen

Gruppentherapie ist schützend, stützend, aufbauend, stärkend. Sie schafft Rückhalt, Solidarität, Geborgenheit und damit einen der sehr wirksamen Nährboden für Heilung und Veränderung. Und diese Seite des Gruppenerlebens ist für viele Menschen nicht nur neu und heilsam, sie ist gleichzeitig sehr angenehm und wohltuend.
Gruppentherapie birgt jedoch auch eine andere Seite von Erfahrungen, die – zunächst – sehr unangenehm, dennoch nicht minder heilsam sind. Vielleicht sind sie sogar der Ausgangspunkt der nachhaltigsten und weitreichendsten Veränderungen. (Allerdings wohl nur auf dem Boden des erstgenannten.) Die sanfteste Form solch unbequemer, verstörender, eben scheinbar eher „negativer“ Erfahrungen ist das kritische Feedback. Die Integration kritischer Rückmeldungen ist psychische Schwerstarbeit: Vom Feedback-Gebenden verlangt es den Mut zur Offenheit und Ehrlichkeit, vom Empfänger das Ringen mit Gefühlen der Scham, des Abgelehntwerdens, des Ungewolltseins, der Kränkung und ähnlichem, um zum realen Kern des Feedback zu gelangen und es letztlich als Geschenk anzunehmen, das hilft, den eigenen blinden Fleck zu erkennen. Die heftigste Form dieser „negativen“ Erfahrungen als eine Variante kritischer Rückkoppelung sind persönliche Krisen und Sackgassen. Sie sind nicht unbedingt Ergebnis von Rückmeldungen durch verbale Feedbacks. Es sind vielmehr Rückmeldungen durch Erlebnisse und Erfahrungen mit sich selbst in der Gruppe oder das Resultat unangenehmer Gruppendynamiken wie z.B. das Erleben von Ablehnung, Isolation und Einsamkeit, von unproduktiven Streits oder Kämpfen. Solche Situationen entwickeln sich keineswegs zufällig, sondern weil Menschen in der Gruppe ihre Persönlichkeit leben und somit früher oder später unvermeidlich auch ungünstige Verhaltens- und Beziehungsmuster deutlich werden – und entsprechend auf Kritik und Ablehnung stoßen oder in Beziehungs- und Verhaltenssackgassen führen.

Dazu einige Beispiele:

Eine Teilnehmerin schrieb in Verarbeitung ihrer Therapieerfahrungen rückblickend zu einer Blockwoche: „Ich fand nicht in die Gruppe, fühlte mich außen vor, konnte mich nicht mitteilen und wollte nur noch weg. Diese Woche war schrecklich, anschließend habe ich allerdings zwei sehr wichtige Entscheidungen getroffen: 1. in der Gruppe zu bleiben und 2. dass mir das so nie wieder passieren sollte.“ Oder ganz ähnlich die Teilnehmerin einer anderen Gruppe: „Ich habe eine ganze Woche mit Abwarten verbracht; am Ende war ich zutiefst unzufrieden und ärgerlich, aber diesmal nicht auf die Anderen, die mich nicht sehen. Plötzlich wurde mir klar: Es liegt in meiner Hand. Das schlimmste wäre, am Ende (des Lebens) zu sagen, du hast es nicht versucht, zu lange gewartet. Ich übernehme jetzt selbst die Verantwortung dafür, mich sichtbar zu machen.“ Was in der Zusammenfassung so locker klingt, lässt vielleicht übersehen, was für ein anstrengender, manchmal quälender Prozess einer solchen Erkenntnis vorausgeht. Und wie sehr darin die Überwindung alter Erfahrungen des Nicht-Gewollt- oder Nicht-Gesehen-Seins steckt, die zu Zurückhaltung und Schweigsamkeit erzog. Ein anderer Fall: Eine Teilnehmerin entschied sich ausgerechnet in einer beruflichen und privaten Krise dazu, die Gruppe zu verlassen. Die Gruppe war entsetzt über den angekündigten Rückzug, erlebte diese Mitteilung als Beziehungsabbruch. Die Betroffene konnte das durchaus verstehen, es tat ihr sogar Leid, die anderen so vor den Kopf zu stoßen, aber sie könne und wolle es nicht anders. Ihre inneren Qualen und persönliche Not waren gleichzeitig unübersehbar. Der Wendepunkt wurde erst erreicht, als sie mit Schrecken erfasste, wie sie hier ein Verhalten ihrer Mutter reproduzierte, unter dem sie selbst sehr gelitten hatte. Auch die Mutter hatte wichtige Menschen in der Zeit eigener Krisen zurückgestoßen, was Ausdruck ihrer inneren Unmöglichkeit war, sich einzulassen und sich den eigenen Schwächen zu stellen. Sie war in Härte und Erstarrung geflohen, um sich nicht in ihrer Erschöpfung und Hilfsbedürftigkeit zu öffnen oder gar eigene Fehler einzuräumen. Der Schock über diese Erkenntnis ermöglichte es der Patientin, umzudrehen. Ab diesem Zeitpunkt vertieften sich ihre Beziehungen in der Gruppe und vor allem zu den Menschen in ihrem sozialen Netz.

Vorübergehende Isolation

Eine besonders zugespitzte Form solcher Krisen – extrem belastend für den Betroffenen, die Gruppe und nicht zuletzt für mich als Therapeuten – ist die vorübergehende Isolation eines Menschen in der Gruppe: Vera erscheint von Beginn ihrer Gruppenteilnahme an als klagend: über mangelnden Raum, den unpassenden Moment, den falschen Mann oder den unzulänglichen Therapeuten. Mal sehr subtil, mal durchaus offen fordert sie von mir und den Anderen Vorleistungen. Sie setzt einen Anspruch in die Welt, der mich und die Gruppenteilnehmer drängt, auf sie zu zukommen, sie richtig zu behandeln usw., um dann aus der Beobachterperspektive den Daumen hoch oder runter zu strecken. So hielt sie alle nicht nur auf Abstand, sondern erzeugte steigenden Unmut. Indem sie die anderen Teilnehmer danach sortierte, wie sehr sie ihr genügen, isolierte sie sich zunehmend in der Gruppe, die immer wütender und ablehnender auf ihren Druck reagierte. Gleichzeitig klagte sie darüber, dass sie sich nicht zugehörig fühle. Allmählich führte dieses Verstecken hinter Forderungen und Bewertungen in eine vollständige Isolation, unter der die Klientin einerseits fürchterlich litt, die sie andererseits ausschließlich der Gruppe anlastete. Diese Gruppe, sei ihr nicht wohlgesonnen. Erst nach einigen quälenden Monaten, in denen glücklicherweise das Vertrauen zu mir nicht verloren ging, erschloss sich ihr eine neue Perspektive: sie erfasste, dass sie es nicht wagte, auf Andere zuzugehen, Interesse und Sympathie zu zeigen, sich gar als Hilfsbedürftige zuzumuten. Ihre Angst vor Zurückweisung oder Abwertung hielt sie hinter den Forderungen nach Vorleistungen der Anderen verdeckt und erzeugte so die Distanz, vor der sie sich fürchtete. Ausgehend von dieser Einsicht wurde sie mutiger und offener, und ihre Verbindung zur Gruppe wuchs. Beim Gruppenphänomen „negativer“ Erfahrungen handelt es sich um eine besondere Form persönlicher Krisen infolge einengender Lebensmuster und Formen der Lebensbewältigung und -gestaltung. Es mag abschreckend klingen, aber die Prozesse einer Gruppe münden gesetzmäßig immer auch in solche kleinen und manchmal großen persönlichen Krisen – und das ist gut so. Denn es sind dieselben Prozesse, die uns im Leben (in Beziehungen, Beruf usw.) scheitern lassen, ja krank machen. Als Resultat der eigenen Lebensgeschichte aktualisieren sie sich in der Gruppe. Sie münden in Krisen, die das Problem und die Einseitigkeit der bisher gefundenen Lösungsstrategien widerspiegeln. Es ist daher kein Zufall, dass sich der Inhalt solcher Therapiekrisen oft mit dem Anlass zur Aufnahme der Therapie deckt. Den Wert von Krisen kennt fast jeder: Sie zwingen zur Neuorientierung. Alte Bewältigungsmuster versagen offenkundig und unübersehbar. Es ist jedoch noch nicht klar, dass der Betroffene nicht Opfer, sondern Gestalter dieses Dramas ist. Von daher ist ihm ebenso wenig deutlich, dass er neue Lösungen finden muss, geschweige denn, dass sie ihm schon ansatzweise bekannt sind. Wenn wir im „realen Leben“ noch nicht den Weg aus der Krise gefunden haben, so ergibt sich unter den Laborbedingungen der Gruppentherapie eine echte Chance zur Neu-Entscheidung: Verhärtung oder Öffnung, Beziehungsabbruch oder Auseinandersetzung, Selbstverantwortung oder Schuldzuweisung – um nur einige solcher Grundentscheidungen zu benennen. Sie bedeuten eine massive Herausforderung zur Neuausrichtung, die keineswegs immer gelingt, oft an den Rand des Abbruchs führt und manchmal auch darüber hinaus. Wenn jemand in der Gruppe die Erfahrung macht, dass sich Lebensthemen wiederholen, kann er sich als Opfer der anderen sehen („Die mögen mich nicht, die sind genauso gegen mich wie alle anderen, die wollen mich nicht so akzeptieren wie ich bin“) und sich innerlich einmauern oder äußerlich weggehen. Oder er kann sich mit seiner Akteursseite befassen, d.h. auf die Suche danach begeben, wie er es ungewollt und unbewusst selbst arrangiert, dass es genauso kommt. Erst wenn das gelingt, kann dieser Mensch die Konfrontation mit seinen Wiederholungen als Chance zum Verständnis solcher Szenen entdecken, um zu neuen Lösungen zu finden. Dieses Phänomen ist natürlich keineswegs auf die Gruppe begrenzt: auch in der therapeutischen Dyade tauchen diese Themen auf, führen zu Krisen oder Abbruch. Aber in der Einzeltherapie kann man sich leichter ausweichen, die Schwierigkeiten dem Therapeuten anlasten. Ein solches Ausweichen ist in der Gruppe schwieriger. Der Spiegel der Gruppe ist fast unausweichlich. Er fordert uns – mitunter auf der Basis sehr schmerzhafter Erfahrungen – zu grundlegenden Entscheidungen heraus. Nicht immer gelingt es, das (sofort) produktiv aufzunehmen. Die Versuche, es abzuwehren und nicht auf sich selbst zu beziehen, sind vielfältig und zum Teil äußerst heftig. „Das passiert mir im Leben nicht – die Therapie belastet mich durch Themen, die mir sonst fremd sind.“ „Woanders habe ich das Problem nicht.“ oder noch schärfer: „Das sind doch alles nur Rückmeldungen traumatisierter Sonderlinge!“ Nicht selten höre ich solche Sätze. Oft ist es ein Versuch, sich der eigenen Beteiligung, dem eigenen Anteil an einem Thema nicht zu stellen. Manchmal ist es einfach Überraschung und Unverständnis, wie stark tiefe Lebensmuster mit ihren Grenzen hervortreten, und zwar um so deutlicher, je tiefer ich mich auf den therapeutischen Prozess einlasse. Das, was in vielen Alltags- oder beruflichen Beziehungen nicht so deutlich wird, ja dort möglicherweise wirklich nicht zwangsläufig auftritt, hat etwas mit der Tiefe der Begegnung zu tun. Je tiefer ich mich einlasse, umso mehr werden meine tiefsten Lebensmuster hervorgerufen. So werden Partner, Familienangehörige, Kinder und gute Freunde, also Menschen die mich berühren, mich deutlicher erkennen und zugleich näher an meine „Juckepunkte“ bringen. Oft tauchen diese Probleme tatsächlich erst nach vielen Jahren in Schwellensituationen oder Beziehungswechseln auf – sie haben in diesem Fällen gewissermaßen im Verborgenen geschlummert. Sie werden nicht in der Therapie erzeugt, sondern aus der Tiefe geholt. Sie sind im tiefsten Sinne eine Selbsterfahrung im Mikrokosmos der Gruppe. Die Parallele zu Lebenskrisen liegt auf der Hand. Man kann nicht umhin, sich ihnen zu stellen. Und das ist natürlich keineswegs nur angenehm. Schwierig bis unmöglich wird es immer dann, wenn die Bereitschaft abreißt, sich den Sinn seines Handelns anzuschauen, d.h. sich mit den Wirkungen seines Tuns auf die Gruppenmitglieder bzw. den Therapeuten zu stellen und sich selbst zu erforschen. Die Verweigerung dieses Fundaments therapeutischer Arbeit oder das Unvermögen, sich dem auszusetzen führt in der Regel zum Kontaktabbruch und Therapieende. Es ist verstehbar, wenn jemand vertraute Verhaltensweisen auslebt, die ihn in die Isolation führen (wenn er schweigt, im Affekt aus dem Gruppenraum rennt, die Gruppe beschimpft oder was auch immer). Problematisch wird es erst, wenn abgelehnt wird, früher oder später wieder in die gemeinsame Erforschung des eigenen Handelns und Verhaltens einzusteigen. Wenn dann solche Sätze fallen wie „Ich brauche keine Überprüfung meiner Wahrnehmung!“ oder „Ich habe nichts damit zu tun, dass die Gruppe mich ablehnt – es ist einfach die falsche Gruppe.“ dann ist das Scheitern auch einer zuvor produktiven Allianz absehbar. Solche Krisen sind fast immer auch meine Krisen. Gelingt es mir, den Abbruch zu verhindern? Kann ich diesen Menschen noch erreichen, ihm helfen, sich in seiner schwierigen Situation zu verstehen? Habe ich alles versucht, um Brücken zu bauen? Hält wenigstens die Beziehung zu mir als Therapeuten, auch wenn die Verbindung zur Gruppe schon weitgehend abgerissen ist? Es sind Phasen großer Anstrengung, die Verbindung zu halten, ohne das Problem zu verharmlosen – also eine Allianz mit meinem Gegenüber zu erhalten ohne eine Allianz mit seiner Abwehr und Verleugnung einzugehen. Es ist die Sorge vor einem drohenden Scheitern, das ja auch ein Scheitern der therapeutischen Beziehung wäre. Gerade in solchen Momenten haben sich parallel zur Gruppe stattfindende Einzelsitzungen bewährt. Sie helfen ein wenig, die Isolation zu lindern, und in der vertrauteren therapeutischen Beziehung fällt es manchmal leichter, sich selbst in Frage zu stellen als im Feuer der Gruppenöffentlichkeit – und umzusteuern. Wenn dies dennoch nicht gelingt, beginnt oft ein langes Ringen in mir, bis ich es wirklich beim Anderen lassen und mir ohne Groll auf mein Gegenüber sagen kann: „Ich habe alles versucht. Es liegt nicht in meiner Macht, dich zu erreichen. Ich akzeptiere, dass du das (jetzt) nicht ändern willst, auch um den Preis des Scheiterns der Therapie.“ Manchmal gelingt es immerhin noch, zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen, wo Gruppe und Teilnehmer herausfinden, dass eine Neuausrichtung vielleicht ansteht, doch für den Moment eine Überforderung bedeutet. So ist es kein Bruch; daran kann man gemeinsam anknüpfen.

Bedürfnis nach Hilfe, Halt und Unterstützung

Thomas will nach einem Jahr wieder aus der Gruppe aussteigen. Der einhellige Tenor der Rückmeldungen in Gruppe lautet: Er habe doch gerade erst angefangen; es sei viel zu früh zum Aufhören, seine Ängste und Panikattacken seien doch noch nicht überwunden. Er beginnt, sich zu rechtfertigen, verweist auf die zeitlichen Belastungen und er müsse lernen, endlich mal Nein zu sagen und nicht so viel auszuhalten. Wieso er denn ausgerechnet „Nein“ sagen lernen wolle, wo es doch um ihn selbst gehe, lauten viele Rückfragen. Auch in mir ist eher eine Sorge: Ich will ihn auf keinen Fall zum Fortsetzen überreden, befürchte gleichwohl, dass Thomas hier ungute Lebensmuster wiederholt. Schließlich fällt der Satz: „Ich finde in dieser Gruppe nicht den Halt, den ich brauche.“ In der Folge wird immer deutlicher: sein Bedürfnis nach Hilfe, Halt und Unterstützung blieb unbefriedigt, weil er sich nicht als Hilfsbedürftiger an die Gruppe wenden konnte. Seine Angst führte ihn vielmehr dazu, sich als stiller Beobachter aus Vielem herauszuhalten und sich nicht in seinen Unterstützungsbedürfnissen zu zeigen. Er versuchte schließlich, dieses Dilemma durch den Entschluss zum Weitergehen zu lösen, geradeso wie manche glauben, ein Partnerwechsel würde das Glück schon bringen, während letztlich nur eine eigene Entwicklung zu etwas wirklich Neuem führt. Seine Kritik an der Gruppe ersparte Thomas in diesem Moment den eigenen Entwicklungsschritt: andere um Hilfe zu bitten. Es gelingt der Gruppe, all dies gemeinsam herauszuarbeiten. Am Ende steht eine gemeinsame Sicht auf seinen Prozess, in dem Thomas sagen kann: „Ich wage es jetzt noch nicht, diese Tür jetzt aufzumachen, diesen Schritt zu gehen“. Obwohl er letzten Endes bei seiner Entscheidung bleibt, ist nun sein Ausstieg aus der Gruppe in ein neues Verständnis gebettet. Es ist kein „blinder“, unbewusster Akt mehr. Vielmehr entsteht eine Perspektive für eine nächsten Schritt, der jetzt noch nicht möglich ist. In der Gruppe kommen persönliche Themen erst langsam, dann immer schneller auf uns zu. Am Ende ist es manchmal so, als führe man mit Vollgas in eine Sackgasse. Es entstehen belastende und herausfordernde Situationen. Bleibe ich auf dem Kurs ungünstiger Muster oder gelingt mir die Wende, und ich riskiere etwas Neues? Solche Krisen enthalten sehr wohl das Risiko, in alte Lösungsversuche wie Rückzug, Schuldzuweisungen usw. zurück zu fallen, Sie bieten indessen zugleich die Chance, eigenen Kräfte zu mobilisieren, um einen neuen Ausweg aus diesem Engpass, aus dieser Krise zu finden. So werden sie zur Geburtsstunde neuer Lösungen und befriedigenderer Lebensmuster. Meistens gelingt es!