Schuld, Teil 4:
Bei der Überlebensschuld handelt es sich aus meiner Sicht um ein weiteres Phänomen im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Ohnmachtserfahrungen. Der Begriff wurde von Niederland (1961) eingeführt, der im Ergebnis seiner Untersuchungen von Opfern des Faschismus als Teil eines Überlebenden-Syndroms auch eine „tiefe Überlebensschuld“ benannte, die sich um die Frage zentrierte: „Warum habe ich das Unheil überlebt, während die anderen – die Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde – daran zugrunde gingen? In dieser unbeantwortbaren Frage liegt wahrscheinlich die stärkste psychische Belastung des Überlebenden…“
Auch wenn die Überlebensschuld erstmals im Zusammenhang mit einem Überleben des Grauens benannt wurde, handelt es sich hierbei m.E. gleichwohl um ein psychisches Phänomen, das auch in anderen Biographien des Überlebens zu finden ist. Zugrunde liegt dem ein allgemeiner Mechanismus des Vergleichens, des Sich-in-Beziehung-Setzens zu wichtigen Lebensgefährten oder elementaren Beziehungen: ich lebe, obwohl du gestorben bist. Oder in etwas abgewandelter Form: ich bin glücklich, obwohl du leidest. So kann z.B. der Verlust eines jahrelangen Schulfreundes, ein gestorbenes Geschwisterkind oder auch die Behinderung oder schwere Krankheit eines Geschwisters das Gefühl des Schuldigseins hervorrufen. So kann man das eigene Glück als Schuld empfinden. In der Regel ist es nur die niemandem zuzuschreibende Ungerechtigkeit des Schicksals, die pure Willkür der Mörder, der Zufall des Kosmos; kaum ist es das Resultat eigener Anstrengungen.
Negative therapeutische Reaktion
In jedem Fall geht’s mir besser als meinen Mitmenschen – und damit geht’s mir schlecht. Im Kern haben wir es auch hier mit einem schuldbehafteten Reflex auf die eigene Ohnmacht im Angesicht eines unbeeinflussbaren traumatischen oder tragischen Geschehens zu tun.
Manchmal wird daraus ein Leidensweg, ein unbewusster Weg, das eigene Leben selbst so unglücklich zu gestalten, bis sich Misserfolge, Krankheiten oder anderes Unglück einstellen. Freud hatte einst in einer Therapie einen Widerstand gegen das Gesundwerden gefunden, als er feststellte, dass jemand nach gutem Therapieverlauf sich plötzlich in seinem Gesundheitszustand wieder verschlechterte. Er nannte das dann negative therapeutische Reaktion – und er vermutete hier ebenfalls eine unbewusste Schuld.
In gewisser Hinsicht ist es natürlich schwierig, von unbewussten Schuldgefühlen zu sprechen, weil Gefühle sich eigentlich durch ihre Wahrnehmbarkeit auszeichnen; sie sind allerdings nicht immer klar differenzierbar.
Kann es unbewusste Gefühle überhaupt geben? Der Verdacht entsteht, wenn man bemerkt, dass Menschen Dinge tun, die ihnen schaden oder zumindest nicht gut tun. Vielleicht ist es besser, von diffusen Schuldgefühlen oder von einer großen Schuldbereitschaft zu sprechen.
In der therapeutischen Arbeit gilt es, Lösungen zu entwickeln, die uns befähigen, das eigene Glück und das eigene Leben dankbar anzunehmen, ohne in Gleichgültigkeit gegenüber den anderen zu verfallen. Denn schließlich hat dieser psychische Prozess, der die Überlebensschuld hervorbringt, grundsätzlich eine sehr positive Funktion. Letztlich hat er aus meiner Sicht eine zutiefst menschliche Basis. Er drückt die Sozialität des Menschen aus, ist Ausdruck der tiefen Verwurzelung unserer Existenz in einer sozialen Gemeinschaft, die von der gelebten wechselseitigen Verantwortung erhalten und getragen wird. Wenn dies nicht zur Schuldhaftigkeit entgleist, wenn es nicht zur Aufgabe des eigenen Glücks oder zum Leid am eigenen Glück führt, können aus diesem psychischen Mechanismus wertvolle Impulse der Verantwortung für den Anderen entstehen. Er enthält eine Kraft zur Umgestaltung der Welt, zur Aufhebung der Ungleichheit und globaler Verantwortung.