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Weinen (Traurigkeit)

Zwei völlig gegensätzliche Begegnungen mit dem Thema Traurigkeit an einem Tag: Monika, immer wieder mit ihrer aufkeimenden Traurigkeit kämpfend, will auf keinen Fall weinen: „Ich habe eine Abwehr gegen diese ,ewige Trauer‘, ihr Therapeuten scheint zu glauben, das wichtigste in der Therapie ist es, traurig zu sein.“ Demgegenüber formuliert einige Therapiestunden später Rainer: “Ich habe zuletzt in meiner Jugend geweint, mein ganzer Körper tut weh, aber ich kann nicht weinen – ich würde so gern weinen können.“


Tja, in der Therapie wird tatsächlich oft geweint; die Taschentücher liegen immer griffbereit – ist das wirklich so wichtig? Grundsätzlich sucht zunächst niemand einen Therapeuten auf, der nicht in Not ist, den nicht aktuelles Leid oder alte, nicht verheilte Wunden plagen. Ohne sie gäbe es ja vermutlich gar keinen Therapiebedarf. Was also liegt näher, als dafür Platz zu schaffen?

Für Kinder ist es noch ganz natürlich zu weinen, wenn es weh tut, sei es aus körperlichem oder seelischem Schmerz. Doch irgendwann greifen Erfahrungen, Werte und Regeln, die diese spontane, gesunde Reaktion unterdrücken: vielleicht war niemand da, mit dem sie ihren Schmerz teilen konnten. Oder sie wurden ausgelacht und abgewertet: Heulsuse, Weichei, Indianer kennt keinen Schmerz… Wem sind diese Kommentare nicht vertraut?

Ebenso häufig unterdrücken Kinder den Schmerz, um nicht zu Last zu fallen, um Eltern zu schonen. Sie übernehmen oder geben sich den Auftrag, ihre Eltern zu stützen. Diese und viele weitere Formen der Behinderung von Schmerz und Traurigkeit motivieren schließlich zu einem veränderten Umgang mit Tränen. Aus anfänglich von außen kommenden Begrenzungen und Aufträgen wird eine innere Abwehr: wir ziehen uns zurück, reißen uns zusammen, beißen die Zähne aufeinander. Wir bewältigen so den Mangel an Platz für unsere Tränen, entziehen uns Abwertung und Spott und kommen ohne weitere tiefe Enttäuschungen durchs Leben.

Eine negative Spirale des Rückzugs

Wir überstehen nun traurige Situationen auf andere als natürliche Weise, indem wir uns unempfindlich machen und unseren emotionalen Ausdruck gewissermaßen einfrieren. Wir lernen so einerseits, schwierige Situationen durchzustehen, erobern uns im besten Fall Kraft und Durchhaltevermögen, wir gewinnen also phasenweise durchaus wichtige Handlungsstrategien. Andererseits verengen wir dadurch allerdings unsere Handlungsmöglichkeiten. Wir verlernen, dass jedes tiefe Gefühl nach Platz in einer menschlichen Begegnung sucht. Mehr noch: Aus Angst vor Enttäuschungen, vor schmerzhaften Erfahrungen lassen wir uns mitunter nicht mehr ganz auf andere ein, vermeiden tiefe Bindungen aus Sorge, wieder verletzt werden zu können. Eine negative Spirale des Rückzugs.
Leider gelingt es nicht, unsere Unempfindlichkeit auf vermeintlich negative Gefühle zu begrenzen. So wie wir unser Ohr kaum allein für lästige Geräusche schließen und gleichzeitig für die angenehmen durchlässig lassen können. Diese innere Schmerz-Grenze wird so auch zu einer Barriere für schöne und leichte Gefühle, für Freude und Glücksempfinden.

Schließlich suchen festgehaltene Tränen sich oft einen anderen Weg, denn die emotionale Selbstbeschränkung ist nicht nur ein seelischer Akt. Wir vollziehen sie parallel immer als körperliche Selbstbehinderung wie z.B. durch körperliche Anspannung oder Atembegrenzung. Dies führt zu Muskelverhärtungen, körperlichen Beschwerden, Schmerzen.

Psychotherapie holt nun Erinnerungen zurück, sensibilisiert für aktuelle Gefühle und hilft, sie zunächst wahr- und dann wieder anzunehmen mit der unvermeidlichen „Nebenwirkung“, erneut durchlässig für Trauriges zu werden. In dem Maße, wie wir seelische Schmerzen wieder tiefer spüren, aktualisieren sich ebenso alle (Über-)Lebensmuster des abwehrenden Umgangs mit Tränen: Rückzug aus dem Kontakt; Selbstabwertung; witzeln, wo es traurig ist; hektisches oder „vernünftiges“ Reden über traurige Erlebnisse, um das Gefühl nicht wirklich an sich herankommen zu lassen usw. Begleitet sind diese Abwehrstrategien auch aktuell immer zugleich von körperlichen Mustern der Anspannung, der Atemverhaltung, der Abwendung u.a.
Es braucht Zeit und Mut, sich allmählich zu trauen, mit den Tränen da zu bleiben, sich wieder anzuvertrauen. Wenn es schließlich gelingt, die Tränen wieder fließen zu lassen, erfahren wir dabei nicht nur die lösende Wirkung des Weinens neu; wir erweitern zugleich unsere Handlungsmöglichkeiten: wir nehmen uns ganz an und ernst, wappnen uns gegen zukünftige Abwertungen und erfahren die stützende Wirkung einer wohlwollenden Begleitung.

Wenn wir also wieder lernen, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen, entlasten wir uns nicht nur von altem oder aktuellem Schmerz. Wir wagen es auch wieder, mit allem, was wir sind, in Begegnungen zu treten, wir leisten einen Schritt zur Überwindung von Einsamkeit und zu mehr Tiefe in Beziehungen, zu mehr Nähe zu sich und Anderen. Wir werden wieder tiefer berührbar, durchlässiger für Freude und Glück. So sind Tränen und Weinen die Geburtswehen für den Übergang in ein neues, erfüllteres Leben.