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Wunden zu Perlen

Aus einem Gebet von Hildegard von Bingen stammt eine wunderschöne Formulierung, worin sie Gott für seine Fähigkeit preist, „Wunden in Perlen“ zu verwandeln. Auch jenseits religiöser Gefühle scheint mir dies eine zutiefst menschliche, auf dem Boden der Psychotherapie äußerst heilsame Vorstellung vom Umgang mit den eigenen Wunden und Verletzungen zu sein. Diese Metapher kann die Basis für eine Bejahung des eigenen Lebensganzen unter Einschluss der erlittenen Entbehrungen, Verletzungen oder Traumata sein.

Die Muschel reagiert – so dachte man zumindest lange Zeit – auf eine äußere Verletzung wie etwa ein eindringendes Sandkorn mit einem inneren Schutzmechanismus, der an der Wundstelle durch die Umhüllung eine Perle entstehen lässt. Was kann das für den Umgang mit unseren Verletzungen heißen? Nach meinen Erfahrungen erschließt sich uns möglicherweise im Verlauf eines Heilungsprozesses das, was ich die Doppelgesichtigkeit einer Verletzung nennen würde: die Verletzung erzeugt in der Regel nicht nur einen Schmerz, sondern aktiviert zugleich einen Prozess zu dessen Bewältigung.

Das verlassene Kind lernt vielleicht, allein mit Problemen fertig zu werden; vielleicht legte seine schmerzhafte Erfahrung den Grundstock für eine besondere Sensibilität im Umgang mit Verletzungen bei Anderen, woraus ein Schutzimpuls für Schwache entsteht; vielleicht setzt diese Erfahrung gar einen Stimulus für ein Engagement für heilende Lebensziele. Manchmal wirken Kindheitserlebnisse so tief, dass die gefunden Bewältigungsformen zu regelrechten Lebensmustern werden oder zu Lebenszielen, zu Berufungen führen. Nicht wenige Psychotherapeuten haben ihren Beruf als Folge der Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte gewählt; hier liegt die Wurzel des Begriffs vom „verletzten Heiler“.

Viele Beispiele lassen sich finden über die Herausbildung spezieller Fähigkeiten als Formen der Bewältigung eines Leidensweges: ein Kind zieht sich als Kompensation seiner Verlassenheit zurück auf das Erlernen eines Musikinstrumentes, es findet einen musikalischen Begleiter als Ersatz für fehlende menschliche Begleitung – und gewinnt einen kreativen Schatz fürs Leben.

Oder ein Mensch entwickelt im tiefen Schmerz die Reaktion, neben sich zu treten, den Schmerz nicht mehr zu fühlen – und kann später in schweren Belastungssituationen auf diese Hilfsstrategie zurück greifen.

Ein anderes Kind versucht verzweifelt die Liebe seiner Eltern zu gewinnen, die es nur über Leistung zu erzielen glaubt – uns strengt sich sein Leben lang an, etwas Besonderes zu sein.

Was aus Notwehr entstand, kann zur Potenz werden

Natürlich ist dies jeweils eine verzweifelte Geschichte des Leides – doch wenn es diesem Menschen gelingt, seinen Selbstwert von der Maske der Leistung wieder abzulösen – vielleicht bleibt am Ende ein künstlerisches, kreatives, gestalterisches Lebenswerk und Lebensgabe, eine erfolgreiche Berufsgeschichte, sportliche Höchstleistungen oder Anderes. Keineswegs geht es immer nur um Großes und Bedeutsames, genauso wesentlich sind vielleicht eher banal scheinende Kleinigkeiten, die dieser Mensch nicht mehr missen mag oder ihm Freude bereiten.

Aber allen gemeinsam bleibt: Solche früh erlernten Lebensmuster stellen für sich genommen durchaus positive Bewältigungsformen dar. Was aus Notwehr entstand, was als Mittel die Not zu wenden geboren wurde, kann zur Potenz werden. In ihrer Isoliertheit sind sie zunächst begrenzt, ja problematisch. Die Fähigkeit, sich allein durchschlagen zu können, ist etwas anderes, als alles alleine machen zu müssen. Sich mit einem Musikinstrument trösten zu können, ersetzt nicht die Möglichkeit, sich in der menschlichen Begegnung Trost holen zu können, Leistungsfähigkeit ersetzt keine Liebesfähigkeit.

Aber wenn es gelingt, die notgebundenen Strategien zu ergänzen und zu erweitern, ihre reflexhafte Fixierung aufzulösen, wenn es gelingt, zu einem bewussten, frei entschiedenem Einsatz dieser Strategien zu gelangen – dann bedingen sie persönliche Kraft und charakterliche Stärke. Befreit von ihren Schattenseiten werden diese Muster und Fähigkeiten zu Perlen. Sie gehen ein in den ganzen Schatz unseres inneren Reichtums. Letztlich machen sie vielleicht sogar unser Wesen aus, prägen unsere Persönlichkeit. Werden wir dann irgendwann sagen: „Ach, hätte ich doch diese schmerzhafte Erfahrung niemals gemacht“ – oder gelingt es uns, ja zu sagen, zu allem, was zu unserer Lebensgeschichte gehört, indem wir ausdrücken: „Die Verarbeitung dieser Erfahrungen hat aus mir das gemacht, was ich bin, auf das ich stolz bin und was ich liebe.“ Das ist für mich die Basis für einen inneren Frieden, für eine Aussöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte. Oder um es mit Tolkien zu sagen: „Er wird seinen Schmerz nicht vergessen, doch wird dieser sein Herz nicht verdunkeln, sondern ihn Weisheit lehren“. (J.R.R. Tolkien, The Return of the King)“